Wozu brauchen wir Parteien in einer starken Bürger-Demokratie?

Auf unserer Veranstaltung „Die Parteien von morgen“, aus unserer Reihe „Politische Kultur im Umbruch“, spach der ehemalige Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger über die Wirkung der direkten Demokratie auf Parteien und die politische Kultur - ein Einblick:


von Sarah Händel

Die Parteienverdrossenheit ist allerorts groß. Umfragen zufolge misstrauen den Parteien 64 Prozent der Befragten. Gleichzeitig wird der Ruf nach mehr Mitbestimmung und Beteiligung der Bürger/innen immer lauter. Da drängt sich die Frage auf: welche Rolle spielen die Parteien denn noch in einer Demokratie, in welcher die Bürger/innen starke Mitsprachrechte haben?

Anstatt in eine Kristallkugel zu schauen, haben wir zur Beantwortung dieser Frage den ehemaligen Bundespräsident Moritz Leuenberger auf unserer gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Veranstaltung „Die Parteien von morgen“ eingeladen.[1] Denn in der Schweiz klappt schon sehr lange, was in Deutschland immer noch vielen unvorstellbar ist: Bürgerinnen und Bürger entscheiden regelmäßig verbindlich und direkt über alle möglichen Sachthemen aus allen Politikbereichen. Und sie können mit der Sammlung von 50.000 Unterschriften (1 % der Wahlberechtigten) eine Volksabstimmung über ein von der Regierung beschlossenes Gesetz einfordern und mit 100.000 Unterschriften ein eigenes Thema zur Abstimmung stellen.

Moritz Leuenberger gab den über 100 anwesenden Zuhörer/innen einen beeindruckenden Einblick in die Schweizer Realitäten. Am Tag zuvor erst hatten die Schweizer/innen vielfach abgestimmt, sowohl über die hochumstritttene Ecopop-Initiative, die sich für einen radikalen Einwanderungsstopp verbunden mit der Breitstellung von Entwicklungsgeldern für Verhütungsprogramme in Afrika aussprach, als auch über die Initiative "Schluss mit den Steuerprivilegien für Millionäre" gegen die Pauschalbesteuerung von reichen Ausländern, und die Initiative „Rettet unser Schweizer Gold", welche die Zentralbank verpflichtet hätte, den Anteil der Goldreserven an ihrem Gesamtvermögen stark zu erhöhen. Dazu kamen viele weitere kantonale Abstimmungen, zum Beispiel über die Senkung des Lehrergehalts im Wallis oder darüber, dass in Basel-Stadt jeder Ausländer von der Verwaltung persönlich willkommen geheißen werden muss.

Trotz der sehr ausgeprägten Praxis der direkten Demokratie muss aber im Hinterkopf behalten werden, dass am Ende doch über 95 Prozent aller Entscheidungen auch in der Schweiz von den Parlamenten getroffen werden. Da erstaunte es doch viele Zuhörer/innen, wie Moritz Leuenberger die Wirkung dieser starken Bürger-Mitsprachrechte beschrieb: allein die Möglichkeit sich gegen ein Gesetzt zu wenden, führe in der Schweizer Politik dazu, dass von Anfang an alle miteinbezogen werden. Vor allem auch diejenigen, die später als potentielle Gegenspieler das Gesetz zu Fall bringen könnten. Eine frühe Informations- und extensive Beteiligungspolitik sei die Folge. Auch sähen die Parteien die direkte Demokratie nicht als Bedrohung, sondern nutzen sie viel mehr selbst sehr aktiv, um eigene Initiativen über das Volk einzubringen. Die naturgemäße Sachorientierung der Initiativen führe zudem dazu, dass Parteien sich auch viel mehr über Positionen in der Sache definieren müssten, als über ihre Führungspersönlichkeiten und deren Eigenschaften. Das wiederum spiegele sich auch in den etwas geringeren Wahlbeteiligungen wider: wenn jederzeit auch zwischen den Wahlen die Möglichkeit besteht Initiative zu ergreifen und kontrollierend einzugreifen, dann sei es eben nicht so wichtig wen man wähle.


Die Rolle der Parteien im Angesicht der direkten Demokratie sei jedoch trotzdem eine wichtige: Sie haben eine Leuchtturm- und Orientierungsfunktion, denn nur sie entwickeln zu allen Sachthemen Positionen und müssen diese in einem kohärenten Gesellschaftsentwurf zusammenführen.

Interessant war auch Leuenbergers Perspektive die direkte Demokratie als Minderheiteninstrument zu betrachten, denn in Deutschland wird sie verstärkt als Mehrheitsinstrument wahrgenommen, das Minderheiten eher bedroht. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muss das Ergebnis vom Prozess getrennt betrachtet werden. Zwar gibt auch Leuenberger zu, dass direktdemokratische Entscheidungen oft eher konservativ ausfallen, also sich an der gesellschaftlichen Mitte und dem Status Quo orientieren, doch haben Minderheiten mit den Instrumenten der direkten Demokratie und den dort garantieren Rechten die Chance einzuhaken, ihre Argumente noch einmal vorzubringen, Debatten auf wunde Punkte zu lenken und sich so Gehör zu verschaffen. So könnte man es folgendermaßen zusammenfassen: Mehrheiten entscheiden am Ende, aber es sind Minderheiten, die mit ihren Argumenten die die direkte Demokratie anstoßen und für sich nutzen.
Das soll nicht heißen, dass es in einem politischen System mit starken Elementen der direkten Demokratie nicht einen starken Minderheitenschutz braucht, den braucht es in jedem Falle, denn die Mehrheit darf nicht mit ihren Entscheidungen in die Grundrechte von Minderheiten eingreifen, doch gleichzeitig ist die direkte Demokratie eben auch als Instruments des Minderheitenschutzes zu verstehen, der es einer Minderheit möglich macht, den politischen Prozess entscheidend mitzugestalten und mit zu beeinflussen.

So hat sich auch das Schweizer Modell der Konkordanzdemokratie als natürliche Folge aus diesen starken Minderheitenrechten entwickelt. In der Regierung sind alle wichtigen Parteien vertreten, es gibt also keine festen Mehrheiten. Für alle Gesetzesinitiativen muss also erst mal ein ausreichender Konsens zwischen den Regierungsparteien gefunden werden. Doch ist der Konsens einmal gefunden, ist eine gute gesellschaftliche Basis für das Vorhaben vorhanden.
Eine weitere Folge des Konsensprinzips in der Regierung ist aber auch, dass die jeweiligen Parteivertreter oft ein sehr spannungsvolles Verhältnis zu ihrer eigenen Partei haben, denn sie sind es, welche die Kompromisse eingehen müssen. Die Parteien sind nachvollziehbarer Weise nicht immer einverstanden mit den Ergebnissen. Automatisch, so Leuenberger, sind die Schweizer Regierungsmitglieder also keine „Parteisoldaten“.

Sicher ist die Schweiz nicht in allem ideales Vorbild. Kritisch zu sehen ist, dass es kein Verfassungsgericht gibt, was Initiativen frühzeitig auf Grundrechtsverstöße prüft und sie, verletzten sie die Grundrechte von  Minderheiten oder verstoßen auf einer andere Weise gegen die Verfassung, auch verbietet. Zudem ist die fehlenden Transparenz bei der Finanzierung von Volksinitiativen und Abstimmungskämpfen ein großes Manko, das behoben werden könnte und müsste.
Doch in Vielem können wir an der Schweiz sehen, dass ein politisches System, das den Bürger als Souverän ernst nimmt und ihm Mitgestaltungsrechte in allem Politikbereichen zugesteht, weder zu Unregierbarkeit noch zu wirtschaftspolitischen Desastern führt. Vielmehr muss anerkannt werden, dass die durch die direkte Demokratie mitentstandene Einbeziehungskultur und Konsensorientierung dazu führt, dass die Menschen sich gehört fühlen und deswegen zufriedener mit ihrer Demokratie sind, auch wenn sich nicht alle Initiativen mit ihren Anliegen am Ende durchsetzen.

In einer Entgegnung auf Herrn Leuenberger hat Landtagsabgeordneter Florian Wahl (SPD) dann auch das Bekenntnis der SPD, zusammen mit den Grünen mehr Mitbestimmung in Baden-Württemberg möglich zu machen, noch einmal bekräftigt und versprochen, dass die dementsprechende Reform bald im Landtag verabschiedet wird. Betont hat er die immer notwendigere Aufgabe der Parteien, Meinungen aus der Bevölkerung aufzuspüren, sie zu bündeln und stärker als bisher in die Politik einfließen zu lassen. Viele Öffnungsprozesse, zum Beispiel Parteikonvente und auch Mitgliederurabstimmungen über wichtige Entscheidungen oder über Spitzenkandidat/innen, hätten in (einigen) Parteien aber bereits stattgefunden.
 
Aus dem Publikum wurde signalisiert, dass die Unzufriedenheit mit den Parteien in der Tat groß ist, und sie vor allem wieder Gestaltungskraft statt scheinbarer Alternativlosigkeit vermitteln müssen, um wieder positivere Anziehungskraft zu entwickeln.

Klar geworden ist, dass die Parteien in einer starken Bürgerdemokratie nicht irrelevant werden sondern ihre Funktion und Arbeitsweise sich verändert. Wir brauchen auch in Deutschland eine starke Bürgergesellschaft, denn die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unsere Zeit, wie die Energiewende, soziale Gerechtigkeit, und viele andere, können nur in einem System gemeistert werden, das alle beteiligt, gesellschaftlichen Konsens herstellen kann und so die Bürger/innen mitnimmt, anstatt von Oben zu verbieten und vorzuschreiben. Die Parteien müssen einerseits diesen sich andeutenden Übergang zu einer Bürgergesellschaft weiter forcieren, durch entsprechende Gesetzgebung im Bereich direkte Demokratie, Transparenz und Beteiligung, aber gleichzeitig weiter an ihrem Selbstverständnis arbeiten und eine Kultur der Beteiligung aller Ebenen in ihren eigenen Reihen vorleben!


[1] Die Veranstaltung „Die Parteien von morgen“, ist Teil der von Mehr Demokratie e.V. gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und Prof. Thorsten Faas von der Universität Mainz organisierten Veranstaltung-Reihe „Politische Kultur im Umbruch“, die schon im Jahr 2013 begonnen hat.

 

Die nächsten Veranstaltungen finden statt, am 24. Februar zur "Demoskopie von morgen" und am 18. Mai zum "Lobbyismus von morgen". Wir werden Sie rechtzeitig über die Details informieren!