Beteiligungsdebatte wird reifer: Verbindliche Rechte sind unverzichtbarer Grundstein für Beteiligungskultur

Bericht zur Tagung in Bad Boll „Bis hierher – und wie weiter? Eine Zwischenbilanz zur Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg“

 

Von Sarah Händel

 

 

Wie steht es um die neue Ära, die seit dem Regierungswechsel für Baden-Württemberg angebrochen ist? Wie wirken sich die bisherigen Anstrengungen aus, eine neue politische Kultur anzustoßen, die die Anstrengung unternehmen will, Politik nicht nur in den Parlamenten zu machen, sondern sich für die Interessen und Perspektiven der Bürger/innen zu öffnen? Staatsrätin Gisela Erler hatte eingeladen: Beteiligungszuständige in den Städten und Kommunen, Beteiligungsorganisator/innen, Bürgerinitiativen, Wissenschaftler/innen, Vertreter/innen aus den Ministerien, dem Städte- und Gemeindetag, den Landratsämtern, Mütterzentren, Stiftungen und Vereinen, und man hat zusammen Bilanz gezogen.


Auf einem Haufen versammelt ist es doch beeindruckend, wie viele Menschen zum Thema Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg mittlerweile aktiv sind. Die Wände der Akademie waren behangen mit Hunderten Beispielen an Beteiligungsprojekten im ganzen Land und Frau Erler präsentierte ihren bisherigen Maßnahmenkatalog, der sich in seiner Perspektivenvielfalt sicherlich sehen lassen kann. Über den Beteiligungsleitfaden für frühe Bürgerbeteiligung bei Großprojekten des Landes, über die Festschreibung von Bürgerbeteiligung als Ausbildungsteil im Curriculum der Verwaltungsfachhochschulen, über die Allianz für Beteiligung zur Vernetzung und Unterstützung von Beteiligungsakteuren im ganzen Land, dem Beteiligungsportal zur Internet-Kommentierung von Gesetzentwürfen, über das Demokratie-Monitoring in Zusammenarbeit mit 3 Hochschulen zur wissenschaftlichen Evaluation der Bemühungen und Wirkungsweisen der Maßnahmen, vielen Pilotprojekten der Beteiligung wie dem Filderdialog, zum Pumpspeicherkraftwerk in Attdorf und dem Naturpark Nordschwarzwald bis hin zur Kooperation mit einer Bürger-Theatergruppe, die Beteiligung auf spielerische Weise bis in den Landtag getragen und eine „Spielkiste Bürgerbeteiligung“ erstellt hat.


Die gesamte Stimmung der Debatten auf der Tagung war positiv-energetisch, aber auch ehrlich und gereift. In seinem Input stellte Prof. Dr. Adalbert Evers zwei Pole des Bürgerengagements gegenüber: Vom pragmatisch orientierten Anpacken an konkreten Problemen vor Ort, das sich auf positive schon etablierte Werte bezieht und solidarisch anderen Menschen helfen möchte, bis zum rebellischen Engagement, welches die Macht- und Ressourcenfrage stellt und Konflikte nicht scheut, um herrschende Strukturen zu verändern. Zwischen diesen Polen verortet sich das Bürgerengagement und es gelte die verschiedenen Formen so miteinander in Beziehung zu setzen, dass sie sich gegenseitig befruchten und eine Zivilsphäre der nachhaltigen Konfliktbewältigung entstehen kann. Die Politik muss sich für beide Pole öffnen, sie im Blick haben und Wege und Raum für konstruktive Auseinandersetzung schaffen.


In vielen Arbeitsgruppen wurde dann der Austausch zwischen den Teilnehmer/innen intensiver und es wurde deutlich, dass die Beteiligungsdebatte stark an Reife gewonnen hat: Das Fachwissen ist größer, die Akzeptanz, dass Beteiligung voraussetzungsvoll ist und Ressourcen braucht, ist gestiegen und für uns besonders erfreulich: Das Bewusstsein ist gewachsen, dass Beteiligung Transparenz, Vorhersehbarkeit und vor allem Verbindlichkeit braucht. Von vielen Seiten wurde die Forderung laut, dass die direkte Demokratie und andere Beteiligungsrechte in der Gemeindeordnung verbindlich für alle, gestärkt werden sollten. Mehrere Male wurde auch von einem Recht der Bürger gesprochen, per Unterschriftensammlung einen Beteiligungsprozess verbindlich vom Gemeinderat einfordern zu können, wie es in Heidelberg schon jetzt in gewisser Weise möglich ist. Im sogenannten Mitspracheantrag hat Mehr Demokratie e.V. diesen Vorschlag bereits formuliert.


Auf das Abschlusspodium hat Frau Erler dann auch die für die Gesetzesänderung zuständigen Ministerialbeamten geladen, um sie mit diesem vielfach geäußerten Wunsch einer verbindlichen Stärkung der Bürgerbeteiligung in der Gemeindeordnung und Verfassung zu konfrontieren. Die Änderung von Gesetzen ist für den weiteren Wandel hin zu einer Beteiligungskultur sicher nicht ausreichend, aber doch ein sehr wichtiges Fundament: Denn gerade eine starke direkte Demokratie kann dafür sorgen, dass die unverbindliche Beteiligung ernsthaft und ergebnisorientiert betrieben wird, anstatt inhaltsloses Feigenblatt zu bleiben.