Leitfaden für frühe Bürgerbeteiligung bei Großprojekten

Auf dem Weg zur "Politik des Gehörtwerdens"? Baden-Württemberg hat heute als erstes Bundesland die frühe Prüfung von Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten bei Großprojekten des Landes eingeführt.

Von Christian Büttner

Eine neue „Politik des Gehörtwerdens“ versprach die grün-rote Regierungskoalition in Baden-Württemberg 2011. Die Auseinandersetzungen um den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs – Stuttgart 21 – hatten gezeigt, dass die Beteiligung von Bürger/innen bei Großprojekten dringend verbessert werden muss. Mit der am 1. März in Kraft getretenen Verwaltungsvorschrift Öffentlichkeitsbeteiligung und einem dazugehörigen Planungsleitfaden führt Baden-Württemberg als erstes Bundesland die verbindliche frühe Bürgerbeteiligung bei eigenen Großprojekten ein.


Heiner Geißler hatte in seinem Schlichterspruch zu Stuttgart 21 gefordert, Planungs- oder Genehmigungsverfahren von großen Infrastrukturprojekten mit Bürger- oder Volksentscheiden zu verknüpfen. Das durchzusetzen stellt sich als schwierig heraus, denn abstimmen können die Bürger/innen nur über Fragen, die sonst das Parlament entscheidet. Doch ein Landtag entscheidet nicht über das Ergebnis eines Planungs- oder Genehmigungsverfahrens. Ob die Realisierung eines beschlossenen Großprojektes den gesetzlichen Vorgaben entspricht oder nicht, wird juristisch, nicht politisch, entschieden. Bei der Realisierung solcher Planungen geht es oft auch darum, Verbesserungen oder einen Interessensausgleich während des Planungsverfahrens zu erreichen. Ziel der neuen Regelungen ist es, Bürgerbeteiligung als ein eigenständiges Konzept in Planungs- und Genehmigungsprozesse zu integrieren: statt Mitentscheiden steht das Mitwirken im Mittelpunkt.


Mit Hilfe einer bindenden Verwaltungsvorschrift und des „Leitfadens für eine neue Planungskultur“ wird dieses Versprechen eingelöst. Die Vorschrift setzt auch den Rahmen für die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung, die im Juni 2013 auf Bundesebene eingeführt wurde. Die Verwaltungsvorschrift ist bei Projekten anzuwenden, wenn ein Raumordnungsverfahren, ein Planfeststellungsverfahren oder ein Genehmigungsverfahren nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vorgesehen ist.


In Baden-Württemberg wird so die Öffentlichkeit künftig von Anfang an beteiligt. Zuvor war dies erst im Lauf des Planfeststellungsverfahrens der Fall, also zu einem Zeitpunkt, an dem das Vorhaben schon weit fortgeschritten war. Die Planungs- oder Genehmigungsbehörde muss nun mit Hilfe eines Beteiligungsscoping einen Beteiligungsfahrplan erstellen: Müssen die Bürger/innen beteiligt werden und wenn ja, wer, wo und wie? Kommt die Verwaltung zu dem Schluss, eine Beteiligung sei nicht erforderlich, muss sie dies begründen. Empfehlungen für bestimmte Beteiligungsmethoden werden im Leitfaden nicht gemacht, um Spielraum für lokale Lösungen zu bieten. Die Beteiligung muss wiederholt werden, wenn zwischen den einzelnen Planungs- oder Bauschritten große Zeiträume liegen oder mehrere getrennte Verfahrensschritte notwendig sind. Der Leitfaden sieht vor, dass die Beteiligungsprozesse auch während der Projektrealisierung weitergehen.
Damit die im Beteiligungslabor entstandene Idee Realität werden kann, muss sich eine ganz neue Planungskultur entwickeln. „Zwischen Schweiz und Habermas“ sieht Frau Erler die Situation der politischen Kultur angesichts des grundlegend notwendigen Wandels. Nachdem die Beteiligung bei Großprojekten verbessert worden ist, müssen bei Bürger- und Volksentscheiden Fortschritte folgen. Denn erst wenn die Bürger/innen darauf vertrauen können, dass sie nicht nur in dialogorientierten Verfahren à la Habermas mitreden dürfen, sondern auch über die Notwendigkeit von Großprojekten entscheiden können, es also auch um das „Ob“ und nicht nur um das „Wie“ geht, werden sie diese Beteiligungskultur als glaubwürdig einschätzen.


Und es bleiben offene Fragen bei der Umsetzung: Wie wird festgestellt, ob ein Beteiligungsverfahren notwendig ist? Ist die Verwaltung darauf vorbereitet und unparteilich genug? Müsste nicht zuallererst für Transparenz gesorgt werden, etwa durch eine Vorhabenliste, auf der anstehende Projekte aufgeführt werden? Denn nur wenn sie wissen, was geplant ist, können Bürger/innen und Zivilgesellschaft frühe Öffentlichkeitsbeteiligung einfordern.


Trotz dieser Einwände stellen die jetzt in Kraft getretenen Regelungen einen Schritt in die richtige Richtung dar. Es ist zu hoffen, dass andere Bundesländer und der Bund diesem Vorbild folgen werden.

Hier finden Sie den Link zum Beteiligungsleitfaden.