60 Jahre Baden-Württemberg: ein demokratiepolitischer Rückblick

Alle Parteien des Baden-Württembergischen Landtags haben Reformen der direkten Demokratie versprochen. Über das Ausmaß wird aktuell verhandelt. Die CDU als größte Oppositionspartei strebt nur moderate Verbesserungen der bisher unpraktikablen Regelungen an. Es lohnt sich, die Zeit 60 Jahre zurückzudrehen: 1952 war die CDU noch Vorkämpferin für eine faire direkte Demokratie! Das Bündnis für mehr Demokratie in Baden-Württemberg fordert die CDU von heute auf, sich ihrer progressiven Positionen von damals zu erinnern und eine umfassende Reform mitzutragen.

Das 60-jährige Jubiläum Baden-Württembergs bietet einen guten Anlass für einen Rückblick. Er macht vor allem eines deutlich: Die Befürwortung einer lebendigen direkten Demokratie war keine Frage der Parteizugehörigkeit.

In unserer Zusammenstellung finden Sie Hintergrundinformationen zur damaligen CDU-Position, eine kurze demokratiepolitische Bilanz nach 60 Jahren Baden-Württemberg und die Reformvorschläge des Bündnisses für mehr Demokratie in Baden-Württemberg.

 

„Eine der grundlegenden Ideen unserer Staatsauffassung...“

...[ist es], „dass das Volk, soweit das irgendwie möglich ist, zur Beteiligung an den Aufgaben des Staates herangezogen werden sollte“. So sprach Dr. Franz Hermann Fraktionsvorsitzender der CDU 1953 über den Stellenwert der direkten Demokratie für die größte Volkspartei im Ländle.

Nach der Volksabstimmung im Dezember 1951 über die Bildung des Südweststaats und der Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung fand sich die CDU als stärkste Partei überraschend auf der Oppositionsbank wieder. Von dort forderte sie, in Einklang mit der KPD, dass für ein Volksbegehren 200.000 Unterschriften, also 5 Prozent der Wahlberechtigten, genügen sollen. Ein Quorum bei der Abstimmung war nicht vorgesehen!

Zwar veranlasste die ablehnende Haltung der Regierungskoalition die CDU dazu, in späteren Anträgen die Hürde des Begehrens auf ein Fünftel der Wahlberechtigten zu vervierfachen; doch beharrte sie auf quorumsfreien Abstimmungen, selbst bei Verfassungsänderungen und sogar bei einer Landtagsauflösung.

Der Abgeordnete Franz Gog (CDU) begründete diese Haltung in einer Sitzung des Landtags am 8.10.1953 mit folgenden Worten: „Wir sind der Auffassung, dass der eigentliche Gesetzgeber jeweils das Volk ist – die Staatsgewalt geht vom Volke aus –, und das Volk kann nur mehrheitlich beschließen. Eine qualifizierte Mehrheit bei einer Volksabstimmung ist an sich schon ein Widerspruch in sich selbst […]“. Durch das Zustimmungsquorum werde „tatsächlich der Volkswille vergewaltigt“, so der zu diesem Zeitpunkt bereits einer großen Koalition vorstehende CDU-Ministerpräsident Dr. Gebhard Müller in der 59. Sitzung des Landtags am 5.11.1953. (Mehr wortgetreue Aussagen der CDU-Abgeordneten können Sie hier nachlesen).

Die damalige Haltung der CDU zur direkten Demokratie und ihr Bekenntnis zur Souveränität der einfachen Mehrheitsentscheidung der BürgerInnen - ohne das Erfordernis eines Quorums - sind bemerkenswert. Es wird deutlich, dass das Zutrauen in die Kompetenz und das Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für das eigene Land nicht an parteipolitische Grenzen stößt, sondern oft an machtpolitische.

Nach 60-jährigem Bestehen Baden-Württembergs lohnt sich die demokratiepolitische Bilanz. Viel Grund zur Freude gibt es nicht. Die Klagen über eine sich ausbreitende Politikverdrossenheit und eine gewisse Demokratiemüdigkeit sind alt. Es ist der Politik bisher nicht gelungen, die Instrumente einer intensiven Bürgerbeteiligung zu etablieren und die Bedingungen zu schaffen, die eine qualitativ hochwertige Beteiligung ermöglichen.

Vielen Menschen fehlen schlicht die persönlichen Freiräume zu mehr politischem Engagement. Viele Kommunen und Städte sind überschuldet und können den Bürgern oft nur noch anbieten mitzuentscheiden, wo die nächsten Kürzungen stattfinden. Verfahren der Mitgestaltung, die etwas Neues initiieren, sind in der Minderheit.

Die Reformen der direkten Demokratie sind nur die ersten und eigentlich einfachsten Schritte hin zur Öffnung der Politik für eine notwendige Reaktivierung der Bürgerschaft.

Nikolaus Landgraf, DGB-Landesvorsitzender: „Mitbestimmung ist eine Kernforderung der Gewerkschaften. Das gilt nicht nur im Betrieb, sondern auch auf kommunaler Ebene oder in der Landespolitik. Demokratie ist darauf angewiesen, dass Menschen selbst für ihre Interessen eintreten wollen und können. Das darf sich nicht auf Wahlen alle paar Jahre beschränken. Lebendige Demokratie bezieht die Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen Fragen auch während der Wahlperiode mit ein. Baden-Württemberg hat von allen Bundesländern den größten Nachholbedarf an direkter Demokratie. Deshalb unterstützen wir das Bündnis für Mehr Demokratie.“

 

Vorschläge des Bündnisses für mehr Demokratie in Baden Württemberg:

Die erste Stufe der direktdemokratischen Verfahren (Antrag auf Volksbegehren) sollte zur Volksinitiative aufgewertet werden. Damit wäre der Landtag direkt befassungspflichtig. So können neue Ideen schnell in den politischen Prozess eingeführt werden und eine erste Diskussions- und Positionierungsphase im Parlament würde angestoßen.

Die Unterschriftenhürde für das Volksbegehren muss radikal gesenkt werden. Nach der Auswertung der Erfahrungen in vielen anderen Länder mit direkter Demokratie erscheinen 5 Prozent der Unterschriften der Wahlberechtigten als ausreichend. Von der direkten Demokratie wird auch dann nicht inflationär Gebrauch gemacht.

Ein Quorum bei der Abstimmung ist überflüssig und gehört gestrichen. Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass das Fehlen eines Quorums weder die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie infrage stellt noch extremen Minderheiten die Chance eröffnet, ihre Interessen gegen eine schweigende Mehrheit durchzusetzen.

Der Sammelzeitraum für die Unterschriften für ein Volksbegehren sollte auf mindestens 6 Monate verlängert werden und freie Sammlung auf den Straßen und Plätzen der Städte und Dörfer muss erlaubt werden – bisher geht das nur in den Rathäusern.

Es soll über alle Themen und Gegenstände der politischen Willensbildung abgestimmt werden können und der Abstimmungskampf muss nach Regeln der Transparenz und Fairness bei der Verwendung öffentlicher Gelder geführt werden, damit Befürworter und Gegner der Volksabstimmung gleiche Chancen haben.

Vorstandssprecher Reinhard Hackl, Mehr Demokratie: „Europa, Deutschland und auch Baden-Württemberg stehen durch die Schuldenkrise, die auch eine Krise des Sozialstaates ist, und die Energiewende vor großen Herausforderungen. Ohne eine Politik des Mitbestimmens wird es unmöglich, hier nachhaltige Lösungen zu entwickeln!“ Dafür muss die Politik nun als erstes die Scheu vor den eigenen Bürgerinnen und Bürgern überwinden. Vor 60 Jahren hat die CDU noch gewusst, wie das geht.

Mehr Informationen zum Bündnis für mehr Demokratie in Baden-Württemberg.