Wege zur Verfassungsänderung

   1. Landtag

Gemäß Art. 64 II LV bedarf es für die Änderung der Landesverfassung im Landtag einer Zweidrittelmehrheit (bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln seiner Mitglieder, auf jeden Fall der mehrheitlichen Zustimmung seiner Mitglieder), über die die grün-rote Regierungskoalition nicht verfügt. Die Unterstützung der für direkte Demokratie vergleichsweise offenen FDP reicht nicht aus.

Folglich bedarf es einer Verständigung mit der CDU. Diese bot in der vorigen Legislaturperiode lediglich eine Senkung des Zustimmungsquorums bei Volksabstimmungen über einfache Gesetze von 33,3 % auf 25 % an, was SPD und Grüne zu Recht als unzureichend ablehnten. Auf den Oppositionsbänken könnte indes die Bereitschaft zu weiteren Zugeständnissen gedeihen.

Das zunächst auszuschöpfende interfraktionelle Gespräch wird jedoch vermutlich ergeben, dass die CDU dem grün-roten Reformprojekt nur in abgeschwächter Form zustimmen würde. Für die Einhaltung des grün-roten Koalitionsversprechens ist deshalb auch der andere durch die Verfassung eröffnete, aber noch nie praktizierte Weg zu erkunden:

   2. Volksabstimmung über die Volksabstimmung

Die Landesverfassung bietet für Verfassungsänderungen einen zweiten Weg: Gemäß Art. 64 III 1 LV kann die Verfassung „durch Volksabstimmung geändert werden, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtags dies beantragt hat.“ Ein Dissens zwischen Regierung und Landtagsmehrheit wie bei einfachen Gesetzen (und im Fall S 21 praktiziert) wird bei Verfassungsänderungen nicht vorausgesetzt. Nach § 5 II Nr. 3 Volksabstimmungsgesetz muss die Volksabstimmung „spätestens drei Monate nach dem Eingang des Antrags bei der Regierung“ stattfinden.

Allerdings ist das verfassungsändernde Gesetz auf diesem Wege nur beschlossen, „wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zustimmt“ (Art. 64 III 3 LV). Selbst bei einer überaus hohen Beteiligung von 75 % müssten also rd. 67 % mit „Ja“ stimmen. Dieses hohe Zustimmungsquorum (das in den meisten Bundesländern gilt) ist allenfalls an einem Wahltag erreichbar. Dafür bietet sich die Bundestagswahl im Sept. 2013 an. Weder Bundes- noch Landesrecht stehen einer solchen zeitlichen Koppelung entgegen. (Entsprechendes gilt auch für die Europa- und Kommunalwahl im Juni 2014 und die Landtagswahl 2016; wegen der dabei wahrscheinlich deutlich niedrigeren Beteiligung wären diese späteren Termine allerdings kaum erfolgversprechend.)

Eine Volksabstimmung über die Fortentwicklung direktdemokratischer Verfahrensregeln könnte die Energie der Menschen, wie sie sich im Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21 entfaltet hat, auf ein positives und erreichbares Ziel lenken. Denn schon längst ist aus dem Protest eine Demokratiebewegung geworden. Durch die Volksabstimmung über das S21-Kündigungsgesetz hat die Bevölkerung das direktdemokratische Instrument erlebt und in den vorangehenden Diskussionen über das Zustimmungsquorum erfahren, dass die geltenden Regeln dringend verbesserungsbedürftig sind. Diese gegenwärtige Wachheit für demokratischen Entwicklungsbedarf gilt es zu nutzen.

Nicht umsonst sieht sich die grün-rote Koalition an der Spitze dieser Bewegung und hat sich entsprechende Reformen vorgenommen. Bürgerbeteiligung ist ihr Kernanliegen und zieht sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag: „Musterland demokratischer Beteiligung“, „Mehr Bürgerbeteiligung auf allen Entscheidungsebenen“, „Kultur des Dialogs und der Offenheit für Vorschläge“, „echte Bürgerregierung“, „Möglichkeit und das Recht …, auf allen Ebenen an Entscheidungen mitzuwirken“, „Politik auf Augenhöhe“, „alle Formen der Bürgerbeteiligung ausbauen“ usw.

Für all dies könnte die Volksabstimmung über die Volksabstimmung das überwölbende Großprojekt werden, indem das inhaltliche Ziel auch die Methode bestimmt. Der Schritt in stärkere Mitverantwortung würde nicht hinter verschlossenen Türen ausgehandelt und huldvoll zugebilligt, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern selbst beschlossen und vollzogen. Den Souverän die demokratischen Spielregeln selbst neu festlegen zu lassen ist Kern der Demokratie.

Als Hebel für intensivere Nutzung aller Formen der Bürgerbeteiligung würde die Erleichterung direktdemokratischer Verfahren auf direktdemokratischem Wege die Tür für eine aktive Zivilgesellschaft öffnen. Dieses Volksabstimmungsprojekt könnte einen inspirierenden Rahmen abgeben zur Vereinbarung eines neuen Gesellschaftsvertrags in Baden-Württemberg, wie er angesichts dringend notwendiger Kursänderungen in Richtung Nachhaltigkeit ohnehin ansteht.

Wesentlich günstiger als die konfliktreiche S 21-Volksabstimmung könnte sich, von grün-rotem Konsens getragen und Grundfragen der Gesellschaft berührend, eine große Bildungsveranstaltung entfalten und dies in enger Kooperation mit der Zivilgesellschaft, insbesondere Trägern der Erwachsenenbildung, Medien und Verbänden. Die Landeszentrale für politische Bildung, Hochschulen und Akademien, Volkshochschulen, Verbände und Gewerkschaften fänden hier ein dankbares Betätigungsfeld. Der Verein Mehr Demokratie e. V. mit seinem Bündnis aus rd. 20 Organisationen, darunter DGB, BUND und NABU, stünde als beratender Fachverband zur Verfügung.

Trotz aller Anstrengungen könnte eine Volksabstimmung das 50%-Zustimmungsquorum verfehlen. Eine „Niederlage“ wäre das gleichwohl nicht; denn damit wäre bewiesen, was zu beweisen war, dass das Quorum viel zu hoch ist und halbiert werden sollte. Das Reformangebot der CDU könnte man dann immer noch wieder aufgreifen, das sich durch diesen direktdemokratischen Anlauf zudem verbessert haben könnte. Zur Lösung der gegenwärtigen Demokratieblockade das scheinbar Unmögliche zu versuchen und zu zeigen, dass die Versprechen ernst gemeint sind, würde der grün-roten Koalition breite Sympathien eintragen.

R. Geitmann