Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Volksabstimmungsgesetzes in Baden-Württemberg

Mehr Demokratie e.V. hat 15 Eckpunkte für eine Weiterentwicklung des Volksabstimmungsgesetzes identifiziert und einen Aufruf an die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im Landtag gestartet, die Reform rasch anzugehen.

1. Einführung einer optionalen Zulässigkeitsprüfung von Volksanträgen und Anträgen auf Volksbegehren vor Beginn größerer Unterschriftensammlungen

Es ist ein gravierender Mangel des bisherigen Verfahrens, dass erst zehntausende Unterschriften gesammelt werden müssen, bevor rechtliche Klarheit herrscht, ob das Begehrte in dieser Form überhaupt zulässig ist. Dadurch entstehen lange Zeit Rechtsunsicherheit für Anhänger wie Gegner des Begehrten sowie auch Frustrationserlebnisse und Ärger über diejenigen staatlichen Stellen, die trotz Kenntnis des Wortlauts des Unterschriftenblatts nicht vorab über die rechtlichen Bedenken informierten. Gleichzeitig wurden Gemeindeverwaltungen im ganzen Land mit der Prüfung zehntausender Unterschriften belastet, was dann alles umsonst war. Es empfiehlt sich deshalb, die Prüfung der formalen und materiellen Voraussetzungen der Zulässigkeit auf Antrag bereits vor Beginn größerer Unterschriftensammlungen für Volksanträge oder Anträge auf Volksbegehren vorzunehmen. Dieser Prüfantrag muss durch 500 Unterschriften unterstützt sein, um einen Missbrauch auszuschließen. Die vorgezogene Prüfung beinhaltet eine verbindliche Entscheidung der zuständigen Stelle - also des Innenministeriums bei Anträgen auf Volksbegehren, des Landtags bei Volksanträgen – über die Erfüllung der formalen und materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Ausgenommen bleiben soll lediglich die Erfüllung des notwendigen Unterschriftenquorums für den Volksantrag bzw. Antrag auf Volksbegehren. Die Entscheidung über das Erreichen des Unterschriftenquorums und damit über die Gesamtzulassung findet nach Einreichung aller Unterschriften statt.

2. Weiterentwicklung von Gesetzentwürfen im Verfahrensablauf ermöglichen

Kein Gesetzentwurf ist nicht noch verbesserungsfähig oder vor noch auszubessernden Mängeln gefeit. Dies gilt sowohl für durch die Regierung oder Landtagsfraktionen in den Landtag eingebrachte Gesetzentwürfe als auch für Gesetzentwürfe, die auf direktdemokratischem Wege vorgebracht werden. Es ist deshalb eine nur unnötigen Rechtsstreit erzeugende Fehlkonstruktion, dass durch Volksantrag oder Antrag auf Volksbegehren eingebrachte Gesetzentwürfe unter Wahrung ihres Kerngehalts nicht noch weiter verbessert werden dürfen, um sie von rechtlichen Mängeln zu befreien oder um sinnvolle Anregungen und Kompromisse aus Gesprächen mit Vertreter/innen des Landtags oder der Regierung aufzugreifen. In anderen Bundesländern ist dies möglich, z.B. im Bundesland Berlin. Die Regelung in Baden-Württemberg soll analog zur Berliner Rechtslage folgendermaßen aussehen: Auf Erklärung der Vertrauenspersonen, die dazu im Unterschriftenformular ermächtigt werden, können diese über reine redaktionelle Editierung hinausgehende Veränderungen am Gesetzentwurf vornehmen, so lange diese nicht den Kerngehalt berühren. Damit werden Rechtsstreitigkeiten und Unzulässigkeiten wegen noch zu geringer Bestimmtheit oder Mängeln in Detailfragen vermieden und ein konstruktives Miteinander im Ringen um Kompromisse und die beste Regelung gefördert – statt sich vor dem Staatsgerichtshof streiten zu müssen. Das Verfahren im Umgang mit einem direktdemokratisch eingebrachten Gesetzentwurf wird insofern an den Umgang mit einem parlamentarisch eingebrachten Gesetzentwurf angeglichen. Was in Berlin möglich ist, muss auch in Baden-Württemberg möglich sein.

3. Begriff „Staatshaushaltsgesetz“ im Sinne einer engen Auslegung präzisieren

Nach wie vor ist unklar und rechtlich umstritten, was der Begriff „Staatshaushaltsgesetz“ in § 59 der Landesverfassung in Bezug auf finanzwirksame Volksbegehren bedeuten soll. Um Rechtsstreitigkeiten von vornherein zu vermeiden, sollte dazu eine Präzisierung und Erläuterung im Volksabstimmungsgesetz vorgenommen werden, und zwar in dem Sinne, dass der Begriff eng auszulegen und nicht über den Wortlaut hinaus auszudehnen ist. Zumal die empirische Politikforschung längst aufgezeigt hat, dass bei Volksstimmungen auch bei größeren finanziellen Auswirkungen verantwortungsbewusst entschieden wird.

4. Zusammenlegung von Volksabstimmungen mit Wahlen nach Berliner Vorbild regeln

In Berlin gilt die Regelung, dass eine Volksabstimmung mit Wahlterminen zusammengelegt werden muss, falls in einem Zeitfenster von 8 Monaten nach der Entscheidung des Landtags in der Sache über das Volksbegehren eine Wahl stattfindet. Dies spart nicht nur erhebliche Durchführungskosten, sondern vermeidet auch taktischen Streit um den Abstimmungstermin, weil das Erreichen des Abstimmungsquorums und damit die Gültigkeit der Volksabstimmung bei der Zusammenlegung mit einer Wahl wesentlich wahrscheinlicher ist als bei einer gesonderten Abstimmung. Nur im Einvernehmen mit den Vertrauenspersonen ist in Berlin ein anderer Termin zulässig. Das gegenwärtig im Volksabstimmungsgesetz vorgesehene Zeitfenster ist zudem derart eng, dass es angesichts der notwendigen organisatorischen Vorbereitungszeit für eine Volksabstimmung faktisch so gut wie keinen zeitlichen Spielraum lässt und dadurch eine Volksabstimmung auch in die Ferienzeit fallen könnte. Ein sofortiger Abstimmungstermin ist aber in vielen Fällen dysfunktional, weil die Suche nach möglichen Kompromissen Zeit benötigt.

5. Planungssicherheit für alle Beteiligten durch lückenlose und realistische Fristen erhöhen

Der gesamte Verfahrensablauf von der Anmeldung einer Unterschriftensammlung bis zur Volksabstimmung muss im Volksabstimmungsgesetz lückenlos durch realistische Fristen geregelt sein. Das ist bis jetzt nicht der Fall. Für einige Phasen fehlen Fristen, so dass Akteure Planungssicherheit verlieren. In anderen Fällen sind Fristen viel zu kurz. Z.B. muss die Einreichung eines ausgearbeiteten Widerspruchs gegen eine Unzulässigkeitserklärung binnen zwei Wochen erfolgen; hier wären zwei Monate angemessen. Nach dem Vorbild Bayerns soll der Staatsgerichtshof bei Anrufung binnen drei Monaten darüber entscheiden, ob ein Volksbegehren bzw. Volksantrag zulässig ist oder nicht. Die Bekanntgabe des Beginns einer Unterschriftensammlung im Staatsanzeiger muss unverzüglich erfolgen, der Landtag sollte drei Monate für Zulässigkeitsentscheidungen und weitere drei Monate für Entscheidungen in der Sache haben. Dies darf nicht nur in der Geschäftsordnung des Landtages, sondern muss im Volksabstimmungsgesetz geregelt sein, um einen für alle verbindlichen Zeitplan zur Ermöglichung von Planungssicherheit zu konstituieren.

6. Vertrauenspersonen besser absichern

Vertrauenspersonen sollten schon bei der Anmeldung eines Volksantrags bzw. Antrags auf Volksbegehren benannt werden müssen, nicht erst bei Einreichung der vollständigen Unterschriftenzahl, denn es bedarf auch bereits vorher verbindlicher Ansprechpartner. Angesichts der auf Landesebene langen Verfahrensdauer sind nicht nur zwei, sondern verbindlich drei Vertrauenspersonen vorzusehen, vergleichbar der Regelung auf der kommunalen Ebene, um bei Ausfällen von Vertrauenspersonen sichere Ansprechpartner zu haben. Die Regelung, dass die „ersten Unterzeichner“ ersatzweise Vertrauenspersonen sind, hat zu entfallen, weil sich bei der großen Zahl der Unterzeichner auch bei Sammlungsbeginn gar nicht bestimmen lässt, wer als erstes unterzeichnet hat. Die Rechte der Vertrauenspersonen müssen präziser und umfassender gefasst werden als bisher.

7. Rederecht im Landtagsplenum für Vertrauenspersonen bei zustande gekommenen Volksanträgen und Volksbegehren

In Berlin steht es den Vertrauenspersonen zu, ihren Volksantrag bzw. ihr Volksbegehren auch im Plenum des Landtags in einem Redebeitrag vorzustellen. Dies sollte auch in Baden-Württemberg zusätzlich zur Anhörung in einem vorberatenden Ausschuss vorgesehen werden. Denn das Landtagsplenum entscheidet über die Zulassung und die Zustimmung in der Sache, deshalb sollten auch alle Landtagsabgeordneten im Sinne eines „Dialogs auf Augenhöhe“ die Gelegenheit haben, das Anliegen aus erster Hand im Landtagsplenum erläutert zu bekommen. Es handelt sich um ein Gebot parlamentarisch-demokratischer Kultur.

8. Unterschriftsformulare bürgerfreundlicher gestalten

Das durch ein Muster verbindlich vorgegebene Unterschriftenformular für Volksanträge, Volksbegehren und Anträge auf Volksbegehren ist – im Vergleich zu anderen Bundesländern – wenig nutzerfreundlich gestaltet. Es enthält zahlreiche Verweise auf den Unterzeichnenden sicher fast durchweg unbekannte Paragraphen, mehrere Fußnoten, die zum Verständnis tatsächlich auch gelesen werden müssen, ein überflüssiges anzukreuzendes Kästchen, obwohl die Kenntnisnahme auch durch bloße Unterschrift zugesichert werden kann, sowie verschiedene andere praxisferne Mängel; z.B. ist kein Platz für eine Rücksendeadresse oder einen Link zum Gesetzentwurf vorgesehen. Das Muster-Formular muss grundlegend auf eine bürgerfreundliche Weise überarbeitet werden. Es muss sowohl beim Volksantrag als auch beim Volksbegehren und Antrag auf Volksbegehren die Unterzeichnung auf einem Einzelblatt oder auf einer Unterschriftenliste möglich sein, weil dies in unterschiedlichen Kontexten praxistauglicher ist und auch den Gemeindeverwaltungen viel Aufwand ersparen kann. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum hier bisher für die verschiedenen Verfahren unterschiedliche Regelungen vorgesehen sind.

9. Online-Eintragung bei Volksanträgen, Volksbegehren und Anträgen auf Volksbegehren ermöglichen

Nach dem Vorbild von Schleswig-Holstein und Bremen sollte bei Volksanträgen, Volksbegehren und Anträgen auf Volksbegehren auch die Möglichkeit einer Online-Eintragung vorgesehen werden. Dies auszuschließen, ist nicht mehr zeitgemäß. Nur bei einer Volksabstimmung selbst sollte dies nach wie vor nicht möglich sein.

10. Bei Volksbegehren Briefeintragung mit amtlicher neutraler Benachrichtigung

Nach dem Vorbild des Bundeslands Hamburg sollte bei einem Volksbegehren auch eine briefliche Eintragung nach einer vorausgehenden amtlichen Benachrichtigung, die selbstverständlich neutral zu halten ist, ermöglicht werden.

11. Rathäuser erhalten Vorlagen für Eintragungen bei Volksbegehren vom Innenministerium als PDF-Datei und vervielfältigen benötigte Formulare nach Bedarf

Schlicht absurd ist die bisherige Regelung, dass die Vertrauenspersonen auf eigene Kosten alle Rathäuser mit einer ausreichenden Zahl an Kopien des amtlichen Eintragungsblattes für Volksbegehren zu versorgen haben, was die private Zustellung von Millionen Kopien bedeutet, da bei rund 800.000 erforderlichen Eintragungen nicht voraussehbar ist, wie sich diese auf die Gemeinden verteilen. Vielleicht war dies in den 1970er Jahren  noch plausibel, als es noch keine elektronischen Dateien und kaum Kopierer gab. Heute ist eine solche Regelung nur noch schwer begreiflich und hat keine Parallele in einem anderen Bundesland. Das amtliche Eintragungsblatt ist den Gemeinden durch das Innenministerium in elektronischer Form zuzustellen. Die Gemeinden können dann je nach konkretem Bedarf vor Ort selbst entscheiden, wie viele Exemplare sie für die laufenden Eintragungen benötigen und diese selbst ausdrucken bzw. kopieren. Auf diese Weise wird auch der Druck enormer Zahlen von tatsächlich gar nicht benötigten Formularen verhindert.

12. Rücknahmemöglichkeit bzw. Abbruch von Volksbegehren im Verfahren

Der Verlauf des Artenschutz-Volksbegehrens hat gezeigt, dass auch die Möglichkeit der Rücknahme bzw. des Abbruchs eines laufenden Volksbegehrens geschaffen werden sollte, weil z.B. ein Kompromiss gefunden wurde. Es ist unnötig und erzeugt nur überflüssigen Verwaltungsaufwand, unter solchen Bedingungen ein Volksbegehren noch weiter laufen zu lassen.

13. Zentrale Übergabe noch ungeprüfter, nach Gemeinden sortierter Unterschriften zum Ende der Sammelfrist ermöglichen

Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, am letzten Tag der Sammelfrist – ggf. auch an einigen wenigen Stichtagen innerhalb der Sammelfrist – eine landesweit zentrale Übergabe, z.B. im Landtag, von auch noch ungeprüften Unterschriften bei einem Volksbegehren zu ermöglichen. Diese Formulare müssen dann einerseits nach dem Kriterium geprüft/ungeprüft sortiert sein, andererseits nach den Namen der Gemeinden der Unterzeichnenden, sodass eine schnelle Weiterleitung an die jeweiligen Kommunen zur Prüfung möglich ist. Denn es ist eine organisatorisch fast nicht zu leistende Aufgabe für die Koordinationsstelle eines Volksbegehrens, den Schriftwechsel mit 1101 Gemeindeverwaltungen zu führen, um die rechtzeitige Prüfung von noch in den letzten Tagen vor Fristeinlauf eingehenden Unterschriften zu ermöglichen, zumal der Rücklauf an Unterschriften erfahrungsgemäß in den letzten Tagen vor Fristablauf nochmals deutlich zunimmt. Deshalb soll das Kriterium sein, dass alle Unterschriften zum Fristende abgegeben sein müssen –ggf. auch an zentraler Stelle im Landtag – , die Weiterleitung und Prüfung in den Gemeinden ggf. aber auch noch in den darauf folgenden Tagen stattfinden kann.

14. Kostenerstattungsregelung bei Volksbegehren und Volksabstimmungen

Nach dem Vorbild anderer Bundesländer soll bei erfolgreichen Volksbegehren sowie  bei Volksabstimmungen auf Antrag eine teilweise Erstattung nachgewiesener Kosten für die Träger des Volksbegehrens möglich sein, vergleichbar einer anteiligen Kostenerstattung bei Landtagswahlen. Denn nicht anders als bei Wahlen wurde damit ein wertvoller und für die Träger sehr kostenintensiver Beitrag für eine demokratische Gesellschaftsordnung geleistet.

15. Umstrukturierung des Volksabstimmungsgesetzes entsprechend dem tatsächlichen chronologischen Verfahrensablauf

Die gesamte Struktur des Volksabstimmungsgesetzes soll grundlegend in der Weise überarbeitet werden, dass die Gliederung des Gesetzes den chronologischen Verfahrensabläufen folgt. Das ist bis jetzt aufgrund der nicht geradlinigen Entstehungsgeschichte nicht der Fall, was die Erschließung durch die Nutzer/innen stark erschwert. Insofern wird der auf diesen Eckpunkten beruhende Gesetzentwurf nicht nur punktuelle Änderungen des bestehenden Volksabstimmungsgesetzes vorschlagen, sondern ein strukturell vom ersten bis zum letzten Satz völlig neu aufgebautes Gesetz präsentieren.

Das gesamte Eckpunktepapier können Sie hier herunterladen.

Unseren Aufruf an die Fraktionsvorsitzenden können Sie hier unterzeichnen.