Demokratie als Simulation?

Der folgende Text ist entstanden als Replik auf das Buch "Simulative Demokratie" von Dr. Ingolfur Blühdorn. Um seine Analyse über den Zustand der Demokratie aber auch zum Selbstverständnis der modernen Bürger/innen zu diskutieren, hatten wir ihn am 7. April auf unsere Abschlussveranstaltung der von Mehr Demokratie e.V. gemeinsam mit der FES organisierten Reihe "Politische Kultur im Umbruch", eingeladen. Das Buch ist jede/m zu empfehlen, die/der besser verstehen möchte, warum wir eigentlich so erdrückend langsam vorankommen, bei dem Unterfangen gerechtere und sozial & ökologisch nachhaltige Gesellschaften zu erschaffen. Der sehr kurzweilige Vortrag von Herrn Blühdorn mit so einigen unangenehmen Wahrheiten, kann hier nachgehört werden (Dauer Vortrag: ca. 37 Mins, Start: ab Minute 15):

Von Sarah Händel

Video bereitgestellt von Cams21- vielen Dank dafür!

Endlich die Alternativlosigkeit aufbrechen!

Ich habe das Buch von Herrn Blühdorn mit großem Interesse gelesen, denn es war – wie sein Vortrag - geprägt von bewundernswert klaren Gedanken und messerscharfen Argumentationen, die sehr viel Resonanz stimuliert haben. Doch bei weitem nicht nur positive Resonanz. Nein, oft war es für mich als berufsbedingte aber auch ganz grundsätzliche Demokratie-Optimistin schwer auszuhalten, unsere Demokratie in so einem düsteren Zustand beschrieben zu sehen. Und zunächst ist es erst mal eine Art von Hilflosigkeit, die sich breit macht, weil Herr Blühdorn durch seine Betonung auf das Deskriptiv-Beschreibende, das beklemmende Gefühl vermittelt, der Wahrheit schlussendlich ins Auge sehen zu müssen. Und die Wahrheit, die er zeichnet ist verunsichernd - ganz wie die dargelegten Effekte der Moderne selbst:


Da ist von einem anti-demokratischen Gefühl die Rede, von einem Peak Democracy, der Post-Demokratischen Wende, von einem umfassenden Ausstieg aus dem emanzipatorisch kollektiv-egalitären Projekt, das einer Emanzipation zweiter Ordnung gewichen ist, mithilfe derer, sich die Menschen befreit haben, von einem erdrückenden Demokratieanspruch, der sowieso schon immer unmöglich zu erfüllen gewesen ist. Besonders fasziniert hat mich Blühdorns Narrativ von der fluiden, nicht mehr konsistenten Wert-und Moralitätsurteilen unterworfenen Identität der modernen Bürger/innen, die in ihrer nur noch punktuellen Gegenwärtigkeit nicht mehr politisch repräsentierbar ist.


Doch genau hier möchte ich eine konkrete Kontra-These entgegensetzen: Die Welt und die heutigen Herausforderungen mögen tatsächlich immer komplexer geworden sein. Und sicher sind auch die Individuen vielfältiger, mobiler, wechselbarer geworden in ihren Lebensvorstellungen und Selbstverwirklichungsansprüchen. Doch trotzdem unterschätzt Herr Blühdorn meiner Meinung nach in großem Maße wie sehr die Menschen trotz alledem im Grunde sehr ähnliche Bedürfnisse haben:

  • materielle und physische Sicherheit, die nicht andauernd bedroht ist

  • die Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und sie zu entfalten

  • der Wunsch nach fruchtbaren sozialen Beziehungen, auf die man sich stützen kann

  • der Wunsch in einer diskriminierungsfreien Gesellschaft als das akzeptiert zu werden was man ist

  • Der Wunsch nach sozialer Anerkennung

  • Die Chance auf selbstbestimmte Arbeit, die Raum lässt für Kreativität und Selbstentwicklung

  • Das Bedürfnis nach einer gesunden Natur und gesunden Nahrungsmitteln


Ich denke, dass sind menschliche Bedürfnisse, die nicht so sehr fluktuieren und die sehr wohl von den politischen Institutionen repräsentiert und umgesetzt werden könnten.

Nur gebe ich Herrn Blühdorn Recht. Unter dem neoliberalen Spardiktat können keine politischen Räume mehr entstehen, in welchem wir gemeinsam die Bedingungen für eine solche Gesellschaftsentwicklung aushandeln könnten. So wird Demokratie in der Tat immer weiter reduziert auf eine wirkungslose Simulation, der wir uns alle unterwerfen müssen.


Doch ich glaube, dass dieses allseitige Gefangensein in den scheinbar alternativlosen Demokratie-Simulation sehr wohl aufgebrochen werden kann. Und vielleicht meint Herr Blühdorn sogar etwas ähnliches, wenn er davon spricht, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir nicht die Demokratie an sich „challengen“, also die Demokratie auf einer sehr grundsätzlichen Ebene herausfordern. Oder wenn Adorno davon spricht, dass jeder Versuch der rückwärtsgewandten Wiederbelebung einer schon mal dagewesenen Version von Demokratie, zum scheitern verurteilt ist.

Ich glaube, wir müssen uns fragen, wie wir es schaffen, in unseren Gesellschaften neue politische Diskussionsräume und „sozial sichere“ Räume für eine Vielfalt von Lebensstilmodellen entstehen zu lassen. Und zwar: trotz der scheinbaren Alternativlosigkeit der aktuellen Krisenmanagement-Politik.


Wir müssen uns fragen, welche Schritte uns diese neuen Räume ermöglichen und welche Instrumente dazu taugen, diese Schritte umzusetzen. In einer Zeit der von Herrn Blüdorn eindrucksvoll beschrieben generellen Verunsicherung der Menschen, die noch dazu geprägt ist von andauernden Verteidigungskämpfen der letzten Wohlstandsreste, sind nämlich viele Menschen nicht gewillt progressiven Parteiprogrammen zu folgen, die die Gesellschaft stark umgestalten wollen. Das machen die mickrigen Wahlerfolge der Linksparteien mehr als deutlich. Und selbst dort wo Linke Kräfte erfolgreich sind, wie etwa in Spanien und Griechenland, folgt schnell eine demokratische Ernüchterung über die dann praktizierte Topdown-Umsetzung von Reformen.


Das zeigt, dass wir Instrumente brauchen, die den neuen Diskussionsraum schrittweise und an ganz konkreten Projekten eröffnen, so dass die Menschen üben können und am konkreten Projekt spüren können, dass die politische Meinungsbildung nicht so schwierig ist, wie sie unter heutigen Konditionen abstrakt betrachtet erscheinen mag. Die Schrittweise und mit Augenmaß betriebene Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der jetzt existierende Demokratie, scheint mir für diesen gesellschaftlich dringend notwendigen Übungsprozess, ein nicht ganz so hoffnungsloser Weg, wie ihn Herr Blühdorn einschätzt.


Und hier setzen wir eben nicht auf alte, schon mal in Kraft gewesene demokratische Normen. Wir setzen damit eben grade nicht auf eine Re-Vitalisierung früherer Demokratie-Versionen. Nein, die Einführung einer sich schrittweise verstärkenden direkten Demokratie auf allen politischen Ebenen zum Beispiel, kann als echtes Übungsfeld betrachtet werden, um die Angst vor den scheinbar unmöglich unerfüllbaren demokratischen Anforderung zu verlieren und gemeinsam den herausfordernden Sachstreit über politische Lösungen zu üben. Und bei einem solchen demokratischen Streit wird auch wieder deutlich werden, dass es eben sehr wohl politische Alternativen in der Sache gibt. Aber eingebracht werden diese Alternativen nicht von zögerlichen Parteien, die Angst um Wählerstimmen haben (müssen!) und in systemische Verpflichtungen eingebunden sind, sondern einbracht werden sie von einer viel freier agierenden Zivilgesellschaft!

Mit einer direktdemokratischen Legitimation im Rücken wiederum, könnten Parteien auch Projekte von einem innovativem Schlage umsetzen, zu welchen sie sonst aus eben genannten Gründen nicht den Mut finden würden.


Auch die Weiterentwicklung des Wahlrechtes wäre ein Instrument, um mehr demokratische Verantwortung sanft aber mit großen potenziellen Auswirkungen auf die politischen Realitäten, auf die Bürger/innen zu übertragen. Spekulieren wir nur einmal, was bei der letzten Landtagswahlen in BaWü herausgekommen wäre, wenn die Bürger/innen sagen wir mal 8 Stimmen gehabt hätten und damit die Chance eine von ihnen präferierte Koalition zu stärken, anstatt sich ausschließlich für einen oder eine Kandidierende/n entscheiden zu müssen, was ja faktisch bedeutet: ein maximal undifferenziertes politisches Votum abzugeben.


Denken wir an eine Ausweitung der Transparenzgesetzgebung, die viele wichtige bei der Verwaltung vorliegende Informationen zugänglich machen würde und der Zivilgesellschaft dabei helfen könnte öfter auch Alternativen zu der als alternativlos verkauften Politik zu entwickeln.


Denken wir bei der Eröffnung neuer gesellschaftlicher Experimentierräume an die Möglichkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens, das auf einen Schlag viele Menschen befreien würde von aktuellen Systemzwängen und gesellschaftlicher Stigmatisierung. Und das dafür sorgen könnte, dass die Individuen in all ihrer modernen Vielfältigkeit den Freiraum hätten, neue Lebensstile zu erproben, die hinwegführen könnten, von der unerbittlichen Logik einer konsumbasierten Lebenserfüllung.


Die von Herrn Blühdorn angesprochene große Demokratische Frage ist deswegen für mich: schaffen wir es als Demokratie, die notwendigen Freiräume zu öffnen, in welchen wir solche innovativen, exponentielle Entwicklungspotenziale-freisetzende Konzepte als Gesellschaft wenigstens mal ernsthaft diskutieren können? In unserem Nachbarland Schweiz ist zumindest dieser Diskussionsraum durch die direkte Demokratie schon viel mehr zugegen als bei uns: Am 5. Juni können die Schweizer/innen nach 2 Jahren langer gesellschaftlicher Debatten erstmals über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abstimmen – während in Deutschland die Möglichkeit eines Grundeinkommens als weit außerhalb des politisch Möglichen definiert und deswegen auch nicht weiter diskutiert wird.


Wie gesagt, vielleicht hat Herr Blühdorn die von mir angedeuteten, mutigen aber durchaus greifbaren Weiterentwicklungen der Demokratie inkludiert, wenn er uns auffordert die Demokratie „herauszufordern“. In dieser Veranstaltungs-Reihe haben wir uns nun 2 Jahre lang damit beschäftigt wie sich die Rollen der verschiedenen Akteure in unseren Gesellschaften schon verändert haben und noch verändern müssen, um eine solche Weiterentwicklung der Demokratie zu meistern. Und wir sehen eine Entwicklung, überall da wo wir hingeschaut haben:


  • bei den Bürgerinnen und Bürgern, die wie Herr Blühdorn selbst sagt, immer mehr Partizipation einfordern. Und auch wenn sie merken, dass Demokratie anstrengend und ressourcenaufwendig ist, bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen. Die in allen Bundesländer ansteigenden Zahlen an Bürgerbegehren belegen das.

  • Bei den Politiker/innen, die trotz dem Wunsch die Kontrolle zu behalten und effizient regieren zu können, doch auch die verbindlichen Mitsprachrechte und die Informationsfreiheit der Bürger/innen immer weiter ausbauen - wie auch in Baden-Württemberg letztes Jahr geschehen. Und die sich schrittweise bewusst werden, dass ihre Rolle sich vom alleinigen Entscheider verbreitert zum Organisator und zur Moderatorin von vielfältigen Beteiligungsprozessen.

  • Bei den Medien, die durch die technologische Entwicklung viel vielfältiger geworden sind und ein viel breiteres Meinungsspektrum abdecken. Und in ihrer Vielfalt die Bürger herausfordern, sich aus verschiedenen Quellen zu informieren und sie befähigen differenziertere Haltungen einzunehmen.

  • und die politische Bildung, die anfängt zu begreifen, dass bei den heutigen demokratischen Herausforderungen - die in Zukunft ja noch steigen sollen!- Bürger/innen auch Unterstützung brauchen, und zum Beispiel Medienkompetenz erlernen müssen. Und am besten schon im Kindergarten üben und erfahren müssen, was demokratischer Streit, demokratische Teilhabe aber auch das Akzeptieren anderer Meinungen bedeutet.


Und auch wenn hier noch viel Arbeit vor uns liegt, denke ich doch, dass wir in dieser Reihe gezeigt haben, dass es eine gemeinsame Orientierung gibt, wohin die demokratische Reise gehen soll. Und wenn dieser Weg in den heutigen Zeiten wegen multipler Widerstände als schier unerreichbar erscheint, hilft es vielleicht sich daran zu erinnern, dass die Gesellschaften mit dem Leitbild einer authentischen Selbstbestimmung, eigentlich schon immer vor scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen standen. Und sie haben es doch geschafft: erst die Herrschaft der Götter, dann die Herrschaft der Monarchen & der Kirchen und dann die Alleinherrschaft der Männer zu überwinden und die Demokratie immer weiter zu verfeinern und näher an die Menschen heran zu bringen.


Ich denke, was wir heute zu tun haben, ist nichts anderes als diesen Weg weiter fortzugehen und darauf zu vertrauen, dass sich die Bedürfnisse der Menschen, mit der Weiterentwicklung der demokratischen Konditionen, sich auch selbst wieder weiter entwickeln und eine Emanzipation 3. Ordnung vollzogen werden kann. Denn ich wage zu behaupten, dass viele Menschen heute in ihrem ungebundenen Individualismus, einer radikalen Marktorientierung bei der Suche nach Lebenserfüllung und der maximalen Flexibilisierung der Lebens-Zusammenhänge mit all ihrer Disruptivität in den sozialen Beziehungen, eben nicht glücklich sind und sich eigentlich eine andere Gesellschaft wünschen.