Das war unsere Fachtagung "Kommunale Direktdemokratie" am 6. März

Am 6. März veranstaltete der Landesverband Baden-Württemberg eine Fachtagung zur Evaluation der Gemeindeordnungsreform von 2015.

Im Dezember 2015 trat eine Novellierung der Gemeindeordnung in Kraft, mit der u.a. einige Neuregelungen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie zu verschiedenen Facetten der Bürgerbeteiligung eingeführt wurden. Im Rahmen der Tagung sollte Bilanz gezogen werden, wie es um die direkte Demokratie im Ländle bestellt ist: Welche Reformelemente zeigten Wirkung? Wo und in welcher Weise besteht noch weiterer Reformbedarf? Ein gemischtes Publikum aus Wissenschaftlern und Politpraktikern fand sich ab 9:30 im Bürgerzentrum West in Stuttgart ein, um diesen Fragen nachzugehen. Leider blieb die Tagung nicht von den Zeitläuften verschont, und so mussten zwei Referenten kurzfristig absagen. Daher musste der Ablauf umgestellt werden: Die ursprünglich als Abschluss gedachte Diskussion möglicher weiterer Gemeindeordnungsreformen wurde ins Vormittagsprogramm gezogen. Sie folgte im direkten Anschluss an Edgar Wunders Präsentation der Evaluation der Gemeindeordnungsreform durch Mehr Demokratie e.V.

In großer Ausführlichkeit stellte Wunder Methoden und Daten vor, auf deren Basis die 2015 erfolgte Reform der Gemeindeordnung vorgenommen wurde, sparte aber auch die normativen Prämissen nicht aus. Zu letzteren gehört etwa die Idee der Integration durch Konfliktaustrag nach Dahrendorf und Dubiel, aber auch Effizienz des Verfahrens, Rechtssicherheit sowie die Vorbeugung gegen Populismus durch Zulassung von Teilhabewünschen sind hier zu nennen. Betreffs der Datenbasis konnte Wunder zeigen, dass Mehr Demokratie durch die intensive, inhaltlich neutrale Beratungstätigkeit über die umfassendste Kenntnis zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in Baden-Württemberg verfügt. Demgegenüber stellte er klar, das Gemeindeverwaltungen und insbesondere Verfahrensbeteiligte kaum als Experten zu betrachten sind. Nicht aus Mangel an prinzipieller Kompetenz, sondern weil seit der Reform von 2015 die durchschnittliche Bürgerentscheidsfrequenz pro Gemeinde bei einem Entscheid alle 44 Jahre liegt. Immerhin: Das ist eine Verbesserung. Mit den seit 2005 gültigen Regelungen lag die Frequenz bei einem Entscheid alle 79 Jahre. Dass es hier zu einem sachten Fortschritt kommen konnte, liegt u.a. an der Zulassung etwa von verfahrenseinleitenden Beschlüssen zur Bauleitplanung als Gegenstand von Bürgerbegehren. Hier bestand offensichtlich ein gewisser Bedarf. Doch nicht nur scheint das Instrument hier noch zu grobschlächtig: Durch die Begrenzung auf einleitende Beschlüsse kommen Bürger, die Kritik im Detail üben, mitunter in die missliche Lage, sich nach dem Muster "ganz oder gar nicht" verhalten zu müssen. Vielmehr zeigte Wunder auch, dass trotz dieser Reform der Wohnungsbau in Baden-Württemberg nicht beeinträchtigt wird, da weniger als ein Promille aller verfahrenseinleitenden Beschlüsse von einem Bürgerbegehren in Frage gestellt wird. Während diese Änderung von 2015 dennoch eine quantitative Folge hatte, hatten die übrigen Reformelemente qualitative Auswirkungen. So hatte die Senkung des Zustimmungsquorums von 25 auf 20 % keinen Einfluss auf die jährliche Zahl an Bürgerbegehren und -entscheiden. Wohl aber verringerte sich dadurch der Anteil ungültiger Entscheide deutlich. Unter dem Strich legte Wunder etliche Argumente vor, die für Bürgerbegehren und -entscheide sowie deren nutzerfreundliche Fortentwicklung sprechen: Bürgerentscheide haben eine befriedende Wirkung, was indes niemals hundertprozentigem Konsens entspricht. Sogenannte NIMBY-Effekte sind allenfalls in sehr kleinen Gemeinden feststellbar. Zugleich haben Bürgerentscheide keine geringere Legitimität als Wahlen, da die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung in etwa so hoch wie die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen und im Schnitt beträchtlich höher als die Beteiligung an Bürgermeisterwahlen ausfällt. Dabei zeigt sich in der Langzeitbetrachtung eine recht stabile Abstimmungsbeteiligung, wohingegen die Wahlbeteiligung im Zeitverlauf stark abnimmt.

In Zentrum der Diskussion standen insbesondere vier Reformvorschläge von Mehr Demokratie zur Verbesserung der direkten Demokratie in den Kommunen Baden-Württembergs. Wenig Dissens bestand dabei etwa bei der Frage, ob Bürgerbegehren und Bürgerentscheide nicht auch auf Kreisebene einzuführen seien. Denn einerseits wäre die Einführung leicht - die entsprechenden Passagen aus der Gemeindeordnung könnten fast wortgleich in die Landkreisordnung übernommen werden. Andererseits besteht direkte Demokratie auf Kreisebene bereits in 14 von 16 Bundesländern, mit positiven Erfahrungen. Der Bedarf lässt sich auch in Baden-Württemberg nachweisen mit durchschnittlich etwa fünf entsprechenden Anfragen pro Jahr bei Mehr Demokratie. Ein von der FDP eingebrachter Gesetzentwurf wird im Landtag diskutiert. Für mehr Zündstoff in der Debatte sorgte dagegen das Zustimmungsquorum bei Bürgerentscheiden, das Mehr Demokratie als reformbedürftig einschätzt. Das sogenannte unechte Scheitern eines Entscheids, der zwar gewonnen wurde, aber das Quorum verfehlt, verhindert die Befriedungsfunktion des Instruments und bringt den Gemeinderat in die unangenehme Lage, nochmal einen Beschluss in der strittigen Sache zu fassen. Hierzu schlägt Mehr Demokratie vor, vom Erreichen des Quorums nicht mehr die Gültigkeit eines Entscheids, wohl aber seine Bindungswirkung abhängig zu machen. Wenn das Quorum verfehlt würde, hätte der Entscheid dennoch Gültigkeit. Dies würde für den Gemeinderat in einem solchen Fall bedeuten: Er muss sich nicht nochmal mit der Angelegenheit befassen. Durch das Wegfallen der dreijährigen Bindungsfrist des Entscheids hätte er aber jederzeit die Möglichkeit dazu. Es handelte sich also um eine Entlastung des Gremiums bei gleichzeitig verbesserter Befriedungschance. Hiergegen erhob sich der Einwand, die Regelung laufe auf eine Abschaffung des Quorums hinaus und nehme den Gemeinderat aus seiner Verantwortung.

Am Nachmittag stellte Saskia Schulz (Uni Hohenheim) ihre Masterarbeit vor, die sich mit den amtlichen Informationsbroschüren zu Bürgerentscheiden befasst. Dabei ging sie zunächst auf die Inhalte ein, die eine Informationsbroschüre enthalten sollte, sowie auf die Funktion der Broschüre und einige Formalia. Mithilfe des Hohenheimer Verständlichkeitsindexes (HIX), der u.a. von Frank Brettschneider mitentwickelt wurde, widmete Schulz sich dann der Verständlichkeit der Broschüren. Dabei zeigt sich, dass zwar wenige Broschüren zu flapsig formuliert sind, doch dass bedenklich viele eine ähnliche Verständlichkeit für Laien aufweisen wie politikwissenschaftliche Dissertationen. Insgesamt wurde dabei klar, dass sich aus der Untersuchung der Informationsbroschüren vermutlich keine direkten Vorschläge zur Verbesserung der Gemeindeordnung ableiten lassen, weil eine zu minutiöse Regelung der Broschüren die GemO und den Gesetzgeber leicht überfordern könnte. Dennoch lassen sich an Schulz' Ergebnisse wichtige weitere Forschungen anknüpfen. Denn wenn der Grad der Verständlichkeit bereits ein solch weites Spektrum umfasst, steht zu erwarten, dass die Broschüren nicht immer ihren Zweck erfüllen, sondern erhebliches Frustrations- und Konfliktpotential bergen, wofür die Politik und Verwaltung auf Gemeindeebene sensibilisiert werden müsste.

Jan Velimsky von der LMU München präsentierte die Ergebnisse von Studien, die er gemeinsam mit Angelika Vetter (Uni Stuttgart) durchgeführt hat. Im Zentrum stand die Frage der sozialen Selektivität von Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene, wobei aufgrund der Datenlage nur größere Städte untersucht werden konnten. Es ging also um das Problem, ob letztlich nur bestimmte Schichten in bedeutender Zahl an direktdemokratischen Prozessen teilhaben. Dabei zeigte sich: Bürgerentscheide sind sozial selektiv - aber das ist nicht überraschend, denn gar keine Selektivität bestünde nur bei 100 % Teilnahme. Das interessantere Ergebnis jedoch: Im Durchschnitt sind Entscheide nicht selektiver als Kommunalwahlen, eine leichte Tendenz zeigt sogar gerade in die andere Richtung. So widerlegen die Untersuchungen Velimskys und Vetters das Vorurteil, direkte Demokratie sei per se viel elitärer als die repräsentative Demokratie.

In einem Résumé des Tages zog Edgar Wunder abschließend ein sehr positives Fazit, da ein reger Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Bürgern stattgefunden habe. Daher regte er an, eine solche Tagung regelmäßig abzuhalten, gerne dann auch nicht allein von Mehr Demokratie organisiert, sondern in Kooperation mit anderen Interessierten.