Mehr Demokratie sieht Baden-Württemberg als Schlusslicht bei Bürgerentscheid

Bürgerentscheid als Weg aus der Politikverdrossenheit hin zu mehr Mitgestaltung

Als Schlusslicht in Sachen direkter Bürgermitsprache bezeichnet der Landesverband der Bürgeraktion Mehr Demokratie Baden-Württemberg auf einer Landespressekonferenz. Klaus Wolf (Pforzheim) und Reinhard Hackl (Böblingen), die beiden Landesvorsitzenden, zogen dabei Bilanz der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Baden-Württemberg im letzten Vierteljahrhundert und forderten Verbesserungen für die direkte Demokratie im "Ländle". So sollen nach bayrischen Vorbild in Baden-Württemberg mehr Themen für Bürgerentscheide zugelassen, Bürgerentscheide auch in Landkreisen eingeführt, die Abstimmungsquoren abgesenkt und gesetzliche Fristen für Bürgerentscheide verlängert werden. Die Bürgeraktion verspricht sich vom Ausbau der direkten Bürgermitsprache mehr Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen und erweiterte Mitgestaltung statt Politikverdrossenheit.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen im "Ländle" sind nach Meinung der Bürgeraktion eher darauf ausgelegt Bürgerbegehren und Entscheide zu verhindern, statt sie zu ermöglichen. Diesen Vorwurf belegen sie mit eindrucksvollen Zahlen:

So haben in Baden-Württemberg von 1975 (Beginn der statistischen Erfassung des Innenministerium) bis zum Januar 2002 228 Bürgerbegehren stattgefunden. 2/3 davon blieben im Verfahrensgestrüpp der baden-württembergischen Gemeindeordnung hängen. Allein 108 wurden für unzulässig erklärt, u.a. deshalb, weil sie sich mit nicht zulässigen Themen beschäftigten (59) oder die engen vorgeschriebenen Fristen (22) nicht einhielten. Eine Themeneinschränkung und ein enger Fristenrahmen sind dagegen in Bayern unbekannt.

Insgesamt wurden im Land seit 1975 112 Bürgerentscheide nach Bürgerbegehren durchgeführt. Doch davon brachten nur 68 eine gültige Entscheidung zustande. In 44 Fällen wurde das notwendige Abstimmungsquorum von 30 Prozent der Stimmberechtigten nicht erreicht. Dieses Quorum bedeutet, dass bei der Abstimmung eine Mehrheit nur dann zählt, wenn Sie gleichzeitig mindestens 30 Prozent der Stimmberechtigten umfaßt.

Wie willkürlich dieses Abstimmungsquorum von 30 Prozent gewählt ist, macht Mehr Demokratie wieder mit einem Vergleich mit Bayern deutlich. Dort gilt ein Quorum von maximal 20 Prozent. Hätte man die bayerischen Regelungen in Baden-Württemberg angewendet, wären 35 der 44 ungültigen Bürgerentscheide gültig gewesen, u.a. der Bürgerentscheid über die Katamaranfähre in Konstanz.

Eindrücklich ist ein direkter Zahlenvergleich zwischen Bayern und Baden-Württemberg in der Zeit von 1995 bis 2000 (Volksentscheidsbericht von Mehr Demokratie in Bayern): 901 Bürgerbegehren in Bayern stehen 43 in Baden-Württemberg gegenüber. 508 durchgeführte Bürgerentscheide in Bayern nur 25 im Land. Offensichtlich bestehen die gesetzlichen Regelungen hierzulande mehr aus Fallstricken und zwischen die Füße geworfenen Knüppel, denn aus sinnvollen Verfahrensvorschriften, lautet das Fazit der Bürgeraktion.

Aus diesen Erfahrungen leitet Mehr Demokratie seine wichtigsten Forderungen für eine Reform der Bürgerentscheide in Baden-Württemberg ab:

  • Zulassung möglichst aller Themen in der Gemeinde für den Bürgerentscheid, wie es auch die Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP vorsieht. Die Forderung des Gemeindetages, Bebauungspläne hier auszunehmen, würde das Instrument gleich wieder amputieren, warnt die Initiative. Gerade hier hätten die Bürger eine großes Interesse an Mitsprache. So fanden in Bayern im Jahr 2000 die meisten (30 von 82) Bürgerbegehren zu Bebauungsplänen statt.
  • Die Abschaffung, zumindest aber die Absenkung des Zustimmungsquorums auf 10 bis 20 Prozent wie in Bayern. Zustimmungsquoren verhindern eine öffentliche Debatte, weil die Gegner eines Bürgerbegehrens darauf setzen können, dass nicht genügend Menschen zur Abstimmung gehen.
  • Ausweitung des Bürgerentscheides auf die Landkreisebene wie in Bayern. Wichtige Themen wie Nahverkehr, Müllentsorgung oder Krankenhausbau sind dort angesiedelt. Es mache keinen Sinn, dass Bürger in Großstädten, wie Stuttgart, Mannheim oder Ulm über solche Themen abstimmen könnten, Bürger in Ludwigsburg, Böblingen oder Tübingen dagegen nicht.
  • Verlängerung der Frist für Bürgerbegehren gegen Gemeinderatsbeschlüsse von 4 auf 8 Wochen. Bayern kennt hier keine Fristen.
  • Bürgerbegehren auch in Ortsteilen und Stadtbezirken, soweit sie Befugnisse der Ortschaftsräte oder Bezirksbeiräte betreffen.
  • Faire Durchführung der Bürgerentscheide dadurch, dass Bürgerbegehren und Gemeinderatsmehrheit in den Gemeindepublikationen der gleiche Raum zur Verfügung gestellt wird.

Die Übersicht über die Regelungen für Bürgerentscheid in den 16 Bundesländern macht deutlich:
Nur Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz haben vergleichbar schlechte Regelungen wie Baden-Württemberg. Vom Vorreiter in Sachen direkter Demokratie bis 1989 ist das Land heute zum Schlusslicht geworden. In einem Bild lässt es sich sehr gut darstellen:
Die Politik hat den Bürgern ein Fußballfeld versprochen. Gebaut wurde es allerdings an einem Steilhang und die Bürger müssen bergauf spielen. Da geht der Ball oft ins Aus und die Spielfreude verloren. Mehr Demokratie strebt Regelungen an, die den Bürgern die Freude an der Demokratie zurückgeben. Der Slogan "Wir können alles ... außer mitentscheiden!" darf nicht länger Leitlinie baden-württembergischer Regierungspolitik bleiben.

Reinhard Hackl, Landesvorsitzender

Graphiken:

Vergleich Bürgerentscheidsverfahren der Bundesländer (pdf)