Stellungnahme zum Entwurf des "Gesetzes über die dialogische Bürgerbeteiligung" der Landesregierung

Die Landesregierung hat den Entwurf eines "Gesetzes über die dialogische Bürgerbeteiligung" in den Landtag eingebracht, wo es am 17.12.2020 in Erster Lesung behandelt werden soll. Unser Landesvorsitzender Edgar Wunder nimmt zu diesem Gesetzentwurf nachfolgend Stellung.

Stellungnahme von Edgar Wunder, Landesvorsitzender von Mehr Demokratie e.V.

Im Unterschied zu parlamentarischen als auch direktdemokratischen Formen der Demokratie, die beide entscheidungsorientiert sind, zeichnet sich Bürgerbeteiligung im engeren Sinne durch eine Dialogorientierung ohne Entscheidungskompetenz aus. Um Dialoge flexibel und situationsadäquat ausgestalten zu können, ist es wichtig, dass dialogorientierte Bürgerbeteiligung so wenig wie möglich gesetzlich reglementiert oder formalisiert wird. Ein Gesetz zur dialogischen Bürgerbeteiligung sollte nicht zu einem Verlust von Freiheitsgraden führen, die für eine gute Praxis dialogorientierter Bürgerbeteiligung notwendig sind.

Unterstützenswert ist es hingehen, bereits bestehende gesetzliche Regelungen (oder auch Gesetzeslücken), die geeignet sind, dialogische Bürgerbeteiligung zu erschweren, so zu modifizieren, dass solche Hemmnisse entfallen.

Vor dem Hintergrund dieses Maßstabs – es sollte um Ermöglichung und Erleichterung gehen, nicht jedoch um Ausgestaltung und Reglementierung – ist auch der vorliegende Gesetzentwurf zu bewerten. Wir kommen nach kritischer Durchsicht zu dem Ergebnis, dass er sowohl nützliche Elemente enthält, die geeignet sind, dialogische Bürgerbeteiligung zu erleichtern und anzuregen, als auch Elemente, die eher geeignet sind, dialogische Bürgerbeteiligung unnötig zu reglementieren und damit einzuschränken.

Sinnvolle Elemente des Gesetzentwurfs

  • Es ist sinnvoll, in einem gesetzlichen Rahmen Bürgerbeteiligung als eine „öffentliche Aufgabe im öffentlichen Interesse“ zu definieren. Denn dies ist nicht nur Lyrik, sondern hat einen realpolitischen Hintergrund. Uns sind konkrete Gemeinden und Landkreise bekannt, die eine vorgeschlagene dialogische Bürgerbeteiligung zu bestimmten Vorhaben mit dem lediglich formalen Argument abgelehnt haben, eine derartige Bürgerbeteiligung sei keine öffentliche Aufgabe im öffentlichen Interesse im Sinne der bestehenden Gesetze. Einer derartigen Argumentation wird der durch den vorliegenden Gesetzentwurf der Boden entzogen, was wünschenswert ist.
  • Weiterhin sind uns konkrete Behörden bekannt, vor allem auf der Landkreisebene, die eine Bürgerbeteiligung auf der Basis von zufällig ausgewählten Einwohner:innen mit dem Argument abgelehnt haben, dies sei datenschutzrechtlich bedenklich, weil die Einwohnermeldedaten der Gemeinden nicht für diesen Zweck gedacht seien. Es gab mindestens eine entsprechende Anfrage an den Landesdatenschutzbeauftragten, die bezeichnenderweise in der Sache unbeantwortet blieb. Um diesem datenschutzrechtlichen Einwand abzuhelfen, ist es sinnvoll, eine gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, damit Einwohnermeldedaten für diesen Zweck durch Behörden genutzt werden können.
  • Die benannten beiden Aspekte sind keineswegs nur für Landesbehörden relevant, sondern die meisten Anwendungsfälle dürften auf der Gemeinde- und Kreisebene zu lokalisieren sein. Es ist deshalb sinnvoll, dass sich der vorliegende Gesetzentwurf mit „Behörden“ im Sinne von § 1 LVwVfG nicht nur auf Landesbehörden bezieht, sondern ebenso auch auf die kommunale Ebene – allerdings ohne dies explizit zu betonen. Dies könnte noch deutlicher unterstrichen werden, damit sich Gemeinden und Landkreise auch angesprochen fühlen.

Dysfunktionale Elemente des Gesetzentwurfs

Alle weiteren Ausführungen im Gesetzentwurf bedürfen unseres Erachtens keiner gesetzlichen Regelung und wären besser in einer Art „Leitfaden“ aufgehoben. Einige davon sind sogar als schädlich für eine dialogorientierte Bürgerbeteiligung zu klassifizieren, indem sie Hürden und Einschränkungen im Sinne einer „Überregelung“ errichten:

  • Eine formale Frist (drei Wochen) für die Veröffentlichung von Ankündigungen einer dialogischen Bürgerbeteiligung gesetzlich festlegen zu wollen (§ 2 Abs. 4), oder Fristen für Antworten auf Einladungen, ist eine bürokratische Überregelung. Dies bedarf keiner gesetzlichen Regelung und kann im Übrigen sogar schädlich sein, weil dabei nicht bedacht wird, dass die Ausgestaltungsformate und Anwendungskontexte dialogischer Bürgerbeteiligung so vielfältig sind, dass derartige Fristen nicht in allen Fällen sinnvoll sind.
  • Auch die vorgesehene Löschung aller Daten der Teilnehmer:innen spätestens drei Monate nach Abschluss des Beteiligungsformats (§ 3 Abs. 4) ist nicht in allen Fällen sinnvoll. Soll beispielsweise zu einem späteren Zeitpunkt eine nachträgliche Evaluierung oder im Abstand einiger Jahre eine retrospektive Bewertung der Ergebnisse oder der Umsetzung der Empfehlungen der Teilnehmer:innen aus einer Teilnehmendenperspektive vorgenommen werden, dann wäre eine solche Löschung fatal. Es gibt überhaupt keinen Grund, hier durch eine über die Datenschutzgrundverordnung hinaus gehende Regelung gesetzlich eingreifen zu wollen.
  • Eine gravierende und darüber hinaus auf sachlich falschen statistischen Annahmen beruhende Einschränkung wäre die in § 2 Abs. 5 enthaltende gesetzliche Vorgabe, die Grundgesamtheit, aus der die Zufallsbürger:innen für eine dialogische Bürgerbeteiligung zu ziehen seien, solle „mindestens 1000 Personen“ umfassen (andernfalls sei ein „örtlich größerer Bereich“ zu wählen). Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs wird dies so erläutert: „Anerkanntermaßen bildet die Zahl von 1000 Personen die statistische Grenze zu Repräsentativität.“ Dies ist aus einer fachwissenschaftlich-statistischen Perspektive falsch. Ob eine Grundgesamtheit (sic!) 1000 Personen umfasst oder nicht, ist für die Frage der Repräsentativität einer daraus gezogenen Stichprobe komplett irrelevant. Auch aus deutlich kleineren Grundgesamtheiten können repräsentative Stichproben gezogen werden. Vermutlich liegt hier ein Irrtum dergestalt vor, dass an die bei vielen repräsentativen Bevölkerungsumfragen übliche Große der Stichprobe (nicht der Grundgesamtheit!) von 1000 Fällen gedacht wird – von der aber aus statistisch-fachwissenschaftlicher Sicht ebenfalls nicht die Repräsentativität abhängt, sondern lediglich, ob das für diesen speziellen Zweck erwünschte Konfidenzintervall der ermittelten Befunde erreicht werden kann. Wirklich jede studierte Statistiker:in – fragen Sie welche, wenn Sie daran Zweifel haben sollten – wird Ihnen bestätigen, dass die Annahme, eine Grundgesamtheit müsse mindestens 1000 Fälle umfassen, um daraus repräsentative Stichproben ziehen zu können, unzutreffend ist. Es ist weder aus statistischer noch aus sozialwissenschaftlicher noch aus der Perspektive der spezifischen Ziele einer dialogorientierten Bürgerbeteiligung begründbar oder sinnvoll ableitbar, warum die Grundgesamtheit, aus der die Zufallsbürger:innen gezogen werden, mindestens 1000 betragen solle. Eine solche fehlgeleitete Vorgabe oder auch nur Empfehlung in einem Gesetz wäre sicher der falsche Weg und schädlich. Denn in der Praxis – gerade auf Gemeindeebene – sind zuweilen viel kleinere Grundgesamtheiten für die Bearbeitung der konkreten Probleme angemessen.

Grundsätzliches zu den Stärken und Schwächen dialogischer Bürgerbeteiligung

Eine dialogorientierte Bürgerbeteiligung hat ihre spezifischen Stärken und Schwächen, genauso wie direktdemokratische Instrumente spezifische Stärken und Schwächen besitzen und auch parlamentarische Verfahren ihre spezifischen Stärken und Schwächen haben. Es gibt kein „Allheilmittel“, mit dem sich alle Anforderungen und Partizipationswünsche auf stets die gleiche Weise optimal bearbeiten ließen. Vielmehr gilt es – im Sinne des Ansatzes einer „vielfältigen Demokratie“ –, parlamentarische Verfahren, direktdemokratische Instrumente und dialogische Bürgerbeteiligung so miteinander zu verzahnen, dass ihre jeweiligen Stärken zum Zuge kommen und ihre jeweiligen Schwächen minimiert bzw. unter Kontrolle gehalten werden. Zu den Schwächen einer mit Zufallsbürger:innen arbeitenden dialogischen Bürgerbeteiligung gehört, dass nur ein sehr kleiner Bruchteil der Bevölkerung (diejenigen, die zufällig ausgewählt wurden) auf diese Weise eigene Partizipationserfahrungen sammeln kann. Deshalb ist es irreführend, wenn in der Begründung des Gesetzentwurfs davon die Rede ist, solche Verfahren könnten „die Demokratie allgemein durch eine verstärkte Teilhabe fördern“ oder gar ermöglichen, „dass die gesamte Bevölkerung bzw. die gewünschten Bevölkerungsgruppen an der Meinungsbildung teilhaben können“. Das ist sicher eine unzutreffende Überhöhung. Dialogische Bürgerbeteiligung kann z.B. neue Ideen generieren, zu einer Versachlichung und differenzierten Erörterung eines Problems beitragen oder politische Blockaden aufweichen – aber großen Teilen der Bevölkerung Partizipationserlebnisse, Selbstwirksamkeitserfahrungen und entsprechende Lerneffekte zu vermitteln, das kann dialogische Bürgerbeteiligung kaum. Dies ist das Feld direktdemokratischer Instrumente. Umgekehrt können die Schwächen direktdemokratischer Instrumente, die eher entscheidungs- als dialogorientiert sind, durch eine Verkopplung mit Formaten dialogorientierter Bürgerbeteiligung entschärft werden. So sind die erfolgreichen Beispiele dialogorientierter Bürgerbeteiligung mit gesamtgesellschaftlicher Breitenwirkung, etwa die viel zitierten Bürgerräte in Irland und Frankreich, alle nur so zu verstehen, dass im ersten Schritt durch dialogische Bürgerbeteiligung ein Problem intensiv bearbeitet wurde und dann in einem zweiten Schritt über die erarbeiteten Lösungsvorschläge direktdemokratisch abgestimmt wurde. Dadurch wird auch die Achillesferse dialogischer Bürgerbeteiligung umschifft, die darin besteht, dass sie auch zur Frustration beitragen kann, wenn die Ergebnisse der Beteiligung im weiteren Verlauf des Verfahrens dann mehr oder minder ignoriert werden. Leider greift der vorliegende Gesetzentwurf die daraus folgende Aufgabe nicht auf, Verkopplungen zwischen dialogischer Bürgerbeteiligung und direktdemokratischen Instrumenten zu schaffen oder zumindest anzustoßen. Zur Schaffung entsprechender Schnittstellen wären auch und insbesondere gesetzliche Regelungen sinnvoll und notwendig. Denn es bedarf immer präziser gesetzlicher Regelungen, wenn vom Dialog zu verbindlichen Entscheidungen übergegangen wird.