Vielseitiger Input, gute Diskussionen: Das war der Praxisworkshop „Bürgerbegehren & Bürgerentscheid“

Am 9.11.2019 fand in Esslingen im Bürgerforum unser Praxisworkshop „Bürgerbegehren & Bürgerentscheid“ statt. Gut 30 Personen waren gekommen, um sich auszutauschen und Neues zu lernen.

Die Zahl der Bürgerbegehren in Baden-Württemberg steigt. Dennoch ist es für alle Beteiligten in der Regel unbekanntes Terrain, wenn es zu Bürgerbegehren oder gar Bürgerentscheid kommt. Denn im Schnitt findet nur alle 77 Jahre ein Bürgerentscheid in einer baden-württembergischen Gemeinde statt. Um Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, veranstaltet Mehr Demokratie Baden-Württemberg seit 2018 jährlich einen Praxisworkshop. Nach der ersten Veranstaltung dieser Art 2018 in Heidelberg fand nun die zweite Auflage des Formats in Esslingen statt.

Durch das Programm führte Dr. Edgar Wunder, Landesvorstandssprecher von Mehr Demokratie in Baden-Württemberg, der nach einer kurzen Vorstellungsrunde auch den Eröffnungsvortrag zu Bürgerentscheiden als Sternstunden der Demokratie hielt.

Nachdem damit Grundlagen geklärt und einige Vorurteile über direkte Demokratie auf Faktenbasis ausgeräumt werden konnten, folgte der erste Beitrag zu einem Fallbeispiel. Daniel Blank, Vorsitzender der Esslinger SPD, stellte das Bürgerbegehren über Erweiterung und Modernisierung der Esslinger Stadtbibliothek 2018 vor. Dass amtierende Gemeinderäte zu den Mitinitiatoren gehörten, stellt eine Besonderheit dar. Doch war dieser Umstand im vorliegenden Fall nützlich: Nicht nur die Größe der Stadt Esslingen stellte ein Hindernis dar, sondern mitten in den Zeitraum der Unterschriftensammlung fielen die Sommerferien. Ohne Netzwerk und Erfahrung der Parteipolitiker hätte das Begehren unter diesen erschwerten Bedingungen vermutlich kaum das nötige Unterschriftenquorum erreicht. Und auch um die Spannung bis zum Entscheid Anfang 2019 hochzuhalten waren laut Blank prominente Zugpferde hilfreich.

Der nächste Referent war Werner Link, Bürgermeister a.D. der Gemeinde Zell unter Aichelberg, in dessen letztes Amtsjahr noch der Bürgerentscheid im April 2019 über die Erweiterung der Sportanlage des TSG Zell fiel. Auch hier lag eine außergewöhnliche Konstellation vor: Während die Gemeinderatsmehrheit gegen die Erweiterung der Anlage war, war der Bürgermeister Link dafür – eine Situation, die fraglos Fingerspitzengefühl erforderte. Denkbar knapp dann der Ausgang des Bürgerentscheids: Das Zustimmungsquorum von 20 Prozent der Abstimmungsberechtigten wurde zwar erreicht, sodass im Sinne des Bürgerbegehrens ein bindender Entscheid für die Sportanlage zustandekam. Die Befürworterseite setzte sich mit hauchdünnen drei Stimmen Vorsprung durch („jede Stimme kann entscheiden“). Dass daraufhin Neuauszählungen gefordert wurden, überrascht kaum. Die zuständige Aufsichtsbehörde bestätigte das Ergebnis, das daraufhin anerkannt wurde.


Nach der Mittagspause folgte der erste Beitrag einer Bürgerinitiative. Das Ehepaar Quiring von der BürgerGärtenBewegung Vaihingen/Enz stellte den Entscheid zum Erhalt einer Gartenanlage vor. Differenziert wurde besonders der Nachgang vorgestellt: Die Referierenden reflektierten ihre Sicht auf das Geschehen in der ersten Wochen nach dem erfolgreichen Entscheid und mit dem Abstand von nun rund anderthalb Jahren. Bemerkenswert an diesem Fallbeispiel ist vor allem die weitere Entwicklung der Bürgerinitiative. Mit dem Bürgerentscheid wurde sie keineswegs obsolet, sondern fasste neue Kraft und Ziele. Heute organisiert sie kulturelle Veranstaltungen in den städtischen Gartenanlagen – und einige Mitglieder sind mit eigener Liste in den Gemeinderat eingezogen.

Als nächste Referentin berichtete Stephanie Eßwein, Bürgermeisterin von Mutlangen, über das Bürgerbegehren über die Planung eines neuen Wohngebiets 2018. Hier kam es trotz zulässigen Bürgerbegehrens nicht zum Bürgerentscheid. Stattdessen setzte Bürgermeisterin Eßwein sich für einen Kompromiss ein – auf den sich letzten Endes Bürgerinitiative und Investor einigen konnten. Dass dies gelingen konnte, machte Edgar Wunder in der Diskussion maßgeblich an der Person der Bürgermeisterin fest. Zugleich zeigt sich an der Kompromissbereitschaft der Bürgerinitiative eine eklatante Fehlregelung der baden-württembergischen Gemeindeordnung: Diese lässt bei Bauplanungen nur Bürgerbegehren gegen Aufstellungsbeschlüsse zu – und unterstellt damit, Bürger seien, wenn sie nicht uneingeschränkt für Bauplanungen sind, uneingeschränkt dagegen. Mutlangen zeigt: Die Bürgerinitiative war keineswegs gegen jegliche Bebauung – sie störte sich nur an der konkreten Ausgestaltung.


Bernd Wahl, Vertrauensperson des Bürgerbegehrens zum Erhalt geschützter Grünflächen in Langenargen 2018, zeigte mit seinem Beitrag die Probleme, die sich in kleinen Gemeinden ergeben können, auf. Vor allem die häufig überschaubare Presselandschaft kann zum Kommunikations- und damit Mobilisierungsproblem für Bürgerinitiativen werden. Dennoch verlief der Entscheid erfolgreich. Die Lehre daraus: Eine Materialschlacht gewinnt keinen Bürgerentscheid. Vielmehr sind authentisches Auftreten und vor allem sachliche Argumente gefragt.

Den letzten Vortrag hielt Oswald Bachmann über das Bürgerbegehren zur Planung eines neuen Gewerbegebiets in Rottenburg am Neckar 2018. Herr Bachmann war Vertrauensperson des Begehrens. Seine Ausführungen erhellten, dass der Befriedungseffekt, den ein Bürgerentscheid haben kann, abhängig ist vorm fairen Umgang miteinander – und zwar vorher wie nachher. Denn von Befürwortern des abgelehnten Gewerbegebiets würden die Initiatoren des Bürgerbegehrens bisweilen bis heute diffamiert, so Bachmann. Doch trotz der offenbar noch nicht völlig verheilten Wunden zeigte die Gemeinde sich lernbereit. So soll das angedachte Stadtkonzept 2030 von vornherein mit intensiver Bürgerbeteiligung verbunden werden. Nicht zuletzt schuf die Gemeinde eine Stelle für Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung.


Die Diskussionen direkt nach den Vorträgen wie auch die Abschlussrunde verliefen sachlich und konstruktiv. Bei der Reflexion bestätigte sich, was Edgar Wunder eingangs bereits formuliert hatte: Jeder Fall ist letztlich einzigartig und hält neue Erfahrungen bereit. Auch wer sich intensiv mit Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden befasst, lernt nie aus.

Nach zwei erfolgreichen Praxisworkshops plant der Landesverband bereits die nächste Veranstaltung der Reihe. 2020 soll es dann ein Treffen für den Regierungsbezirk Freiburg geben.