Bürgerentscheidsbericht für Baden-Württemberg 2006

„Demokratiegurke 2007“ geht nach Pforzheim

Macht Gesetz die Bürger zu „Nein - Sagern“?

 

Den seit Sommer 2005 geltenden Regelungen für kommunale Bürgerentscheide bescheinigt der Landesverband von „Mehr Demokratie e.V. Mängel. Dies geht aus dem vorgelegten Bürgerent-scheidsbericht für die Jahre 1996 bis 2006 hervor. Nach Vorstandsmitglied Fabian Reidinger ha-be es der Gesetzgeber nicht geschafft, bürgerfreundliche Regelungen zu gestalten. Komplizierte Verfahrensregeln erlauben den Bürgern meist nur das „Nein - Sagen“. Alternativvorschläge der Bürger werden so die Ausnahme. Der Verband konstatiert eine geringe Zunahme der Zahl kom-munaler Bürgerbegehren. Die Demokratiegurke 2007, der Preis für den unfairsten Umgang mit diesem Instrument der direkten Demokratie, geht an die Pforzheimer Oberbürgermeisterin Chris-tel Augenstein (FDP), für die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Bürgerentscheid über die Privatisierung der dortigen Verkehrsbetriebe.

Im Sommer 2005 hatte die CDU/FDP-Koalition u.a. beschlossen, dass Bürgerinnen und Bürger über mehr kommunale Themen abstimmen können und das Quorum bei Abstimmungen wurde von 30 auf 25 Prozent abgesenkt wird. In dem nun vorgelegten Bürgerentscheidsbericht versucht der Verband eine vergleichende Bilanz zu ziehen.

Auf den ersten Blick erscheinen die Zahlen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheide positiv. So stieg 2006 die Zahl der Bürgerbegehren von durchschnittlich fast 11 pro Jahr auf 14 und auch die Zahl der kommunalen Abstimmungen erhöhte sich von 9 pro Jahr auf 13. Allerdings täuschen diese Zahlen, denn von den 14 Bürgerbegehren waren 6 aufgrund ihrer Unzulässigkeit erfolglos. Waren viele Bürgerbegehren in den vorherigen Jahren ungültig, da sie in den Worten des dama-ligen Gesetzes „keine wichtigen Gemeindeangelegenheiten“ gewesen waren, wurden im Jahr 2006 vermehrt andere Unzulässigkeitsgründe benannt. Von den 13 Abstimmungen wurden 7 durch Gemeinderäte initiiert.

Als erschreckend bezeichnete Fabian Reidinger die geringe Zahl an initiierenden Bürgerbegehren. Nur in weniger als 16 Prozent der Fälle wurden Alternativen oder Neuerungen vorgeschlagen. Über 71 Prozent der Bürgerbegehren seit 1996 wurden gegen Gemeinderats¬beschlüsse initiiert und schlugen keine Alternative vor. Dies änderte sich auch 2006 nicht. Als Grund dafür führte Fabian Reidinger die Verfahrensregeln der Gemeindeordnung an. Diese berücksichtigten nicht den erhöhten Zeitaufwand der Initiativen für Kostendeckungsvorschlag und Fragestellung. Die bestehende sechswöchige Einspruchsfrist gegen Ratsbeschlüsse könne dazu führen, dass Initiativen Vorhaben der Gemeinde nur stoppen, aber keinen konstruktiven Vorschlag machen würden. „Die direkte Demo¬kratie in Baden-Württemberg”, so Fabian Reidinger, “wird auf ‘Anti-Initiativen’ beschränkt und lässt kaum Raum für Inno¬vationen!”

Ernüchternd wirke auch ein Blick über die Landesgrenze nach Bayern. Dort habe sich nach zehn Jahren Praxis die Zahl der Bürgerentscheide auf 60-80 pro Jahr eingependelt. Bei halb so vielen Gemeinden wären für Baden-Württemberg eine Zahl zwischen 30 und 40 Entscheiden zu erwarten. Auch der Anteil der Bürgerbegehren, die eine eigene oder alternative Planung vorschlagen, sei dort mit fast 60 Prozent der Fälle wesentlich höher als in Baden-Württemberg. “Zwar ist Baden-Württemberg nicht mehr Schlusslicht im bundesweiten Vergleich, aber auf das erreichte Mittelmaß bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden kann die Landesregierung nicht stolz sein”, so der Landessprecher.

Die Negativauszeichnung “Demokratiegurke 2007” erhielt im Rahmen der Pressekonferenz die Pforzheimer Oberbürgermeisterin Christel Augenstein und die Mehrheit des dortigen Gemeinderates. Damit sollen nach Auffassung des Verbandes die vielfältigen Aktivitäten der Stadtoberen gewürdgt werden, mit denen sie zwei Anläufe der Bürger, die Teilprivatisierung der örtlichen Verkehrsbetriebe durch einen Bürgerentscheid zu stoppen, ins Leere laufen ließen.

So verhinderte die Stadt mit einem fadenscheinigen Rechtsgutachten, dass der Bürgerentscheid nach dem ersten Anlauf am gleichen Tag wie die Landtagswahlen stattfinden konnte. Bei einem solchen Abstimmungstag wäre das sogenannte Abstimmungsquorum kein Problem gewesen. Begründung für die Unzulässigkeit war, dass angeblich ein Kostendeckungsvorschlag fehlte und man keinen Bürgerentscheid vor einer abschließenden Entscheidung des Gemeinderates machen könne. Das Gutachten sprach damit den Bürgern ein Recht ab, das für den Gemeinderat einer Gemeinde selbstverständlich ist, nämlich ein Verfahren in jedem seiner Stadien noch stoppen zu können. Die Forderung nach einem Kostendeckungsvorschlag war schon deshalb absurd, weil zu diesem Zeitpunkt niemand hätte sagen können, was eigentlich die Privatisierung in Pforzheim eigentlich bringen sollte.

Wie willkürlich diese Entscheidung in Pforzheim war, zeigte sich ein halbes Jahr später in Freiburg, als es um die Privatisierung der städtischen Wohnungen ging. Vor dem Bieterverfahern, also noch bevor die städtischen Erlöse feststanden, wurde das Bürgerbegehren dort gegen die Privatisierung ohne Kostendeckungsvorschlag zugelassen.

Die Stadt hatte auch beim zweiten Anlauf der Bürger wenig Vertrauen in die Kaft ihrer Argumente. Im Gegensatz zu Freiburg, kam es in Pforzheim nicht zu einer gemeinsamen Broschüre, in der beide Seiten ihre Meinung vertreten konnten. Man suchte nicht die öffentliche Auseinandersetzung sondern vertraute darauf, dass der Bürgerentscheid in Pforzheim an der hohen Abstimmungshürde scheitern würde. Die Privatisierungsgegner gewannen die Abstimmung mit 77 Prozent Zustimmung, die Abstimmung war aber nicht bindend, da diese 77 Prozent nur etwas mehr als 16 Prozent der Stimmberechtigten darstellten, erfoderlich sind in Baden-Württemberg aber 25 Prozent. Über dieses Votum setzte sich die Mehrheit des Pforzheimer Gemeinderates hinweg. Wenn man in Betracht zieht, das diese Abstimmung in Bayern mit niedrigerem Quorum bindend gewesen wäre und die niedrige Wahlbeteiligung bei vielen OB-Wahlen mit einbezieht - ein etwas seltsames Demokratieverständnis.

Am Beispiel Pforzheim lässt sich, nach Meinung von Reinhard Hackl, ebenfalls Vorstandsmitglied von Mehr Demokratie, gut ein Mangel der bestehende Regelungen aufzeigen. Das hohe Quorum hat es den Stadtoberen in Pforzheim leicht gemacht, nicht die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen, sondern stattdessen die Bürgerinitaitive einfach tot laufen zu lassen. Pforzheims OB Frau Augenstein ist also ein würdiger Preisträger für die Gurke, die “Demokatierose” dagegen, könnte an Freiburg vergeben werden.