"Mangelhaft" für Baden-Württemberg im Fach Demokratie und direkte Bürgermitsprache

Mehr Demokratie, DGB und NABU arbeiten zusammen

Nach "Blauem Brief" droht neues Volksbegehren

Ein neues Bündnis für mehr direkte Demokratie in Baden-Württemberg wurde bei einer Pressekonferenz am 24.11.2003 im Landtag in Stuttgart aus der Taufe gehoben. Gemeinsam setzen sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Naturschutzorganisationen im Land, sowie die Bürgeraktion "Mehr Demokratie e.V." für faire Bürgerentscheide ein. Das Bündnis will im Frühjahr 2004 seine Forderungen an die Landespolitik beschließen und dabei das Bündnis auch um kirchliche Organisationen, Unternehmer- und Sozialverbände erweitern. Danach sollen die politischen Parteien im Landtag eingeladen werden, bei der Formulierung eines entsprechenden Gesetzentwurfes mitzuarbeiten.

Rainer Bliesener (DGB-Landesvorsitzender), Dr. Stefan Rösler (NABU-Vorsitzender, stellvertretend für verschiedene Umweltorganisationen wie NABU, BUND, ADFC) und der Sprecher von Mehr Demokratie Baden-Württemberg, Reinhard Hackl, forderten die CDU-FDP-Landesregierung auf, den Bürgern im Land mehr direkte Mitsprachemöglichkeiten einzuräumen. Sie erhoffen sich von fairen Bürgerentscheiden in Baden-Württemberg mehr Einsatz und Verantwortung der Bürger für unser Gemeinwesen. Mitgestalten statt Politikverdrossenheit ist das Motto für das neue Bündnis.
Nach dem Scheitern des ersten Versuches im Jahre 2000, die Mitbestimmungsregelungen auf Gemeinde- und Kreisebene zu verbessern, unternimmt das Bündnis nun einen neuen Anlauf. Inhalt und Durchsetzung der Forderungen werden in einem Trägerkreis der Bündnisorganisationen entschieden. Damit sei gewährleistet, so Hackl, dass die beteiligten Organisationen sich das Anliegen zu eigen machen. Das Bündnis orientiert sich hier an erfolgreichen Vorbildern in Bayern und Thüringen. Gleichzeitig hat Mehr Demokratie die Konsequenzen aus der juristischen Niederlage des ersten Anlaufes für ein landesweites Volksbegehren gezogen: Als Grundlage für die Beratungen im Bündnis sieht die Bürgeraktion die gesetzlichen Regelungen in Bayern und verzichtet auf weitergehende Forderungen, um nicht die erneute Ablehnung eines entsprechenden Antrages zu riskieren.

Grundlage für das Bündnis sind folgende Verbesserungen: So soll die Themeneinschränkung für Bürgerentscheide auf Gemeindeebene fallen. Bislang kann beispielsweise über den Verkauf von Gemeindeeigentum, Bebauungspläne oder Straßenneubauten nicht abgestimmt werden. Auch in Landkreisen sollen Bürgerentscheide möglich sein. Schließlich soll die Frist für Bürgerbegehren gegen Gemeinderatsbeschlüsse von vier auf acht Wochen verlängert werden. Ein wichtiges Ziel des Bündnisses ist darüber hinaus die Absenkung des Abstimmungsquorums von jetzt 30 Prozent aller Stimmberechtigten.

DGB-Chef Bliesener betonte in seiner Stellungnahme die große Tradition der Mitbestimmung in der Gewerkschaftsbewegung. Die Lebensbedingungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern würden aber nicht nur von betrieblichen, sondern auch von kommunalen, Entscheidungen beeinflusst. Die Einflussmöglichkeiten auf kommunaler Ebene seien besonders in Baden-Württemberg mangelhaft. Direkte Demokratie sei in Baden-Württemberg ein Papiertiger. Die rechtlichen Rahmenbedingungen im Land seien eher darauf angelegt, Bürgerbegehren und –entscheide zu verhindern. 2/3 aller Bürgerbegehren seien in der Vergangenheit im Verfahrensgestrüpp hängen geblieben. Der DGB wolle dazu beitragen, dies durch ein breites Bündnis für mehr direkte Demokratie zu ändern: "Wir möchten, dass der landespolitische Stillstand in dieser für die Bürgerinnen und Bürger zentralen Frage überwunden wird", so Rainer Bliesener.
Der NABU-Vorsitzende Dr. Rösler sieht in verbesserten Bürgerentscheiden nicht nur die Möglichkeit sich vor Ort, mehr und erfolgreicher für den Schutz von Natur, Heimat und Umwelt und damit die eigene Lebensqualität einzusetzen. Die verbesserte Einbeziehung der Bürgerschaft in Entscheidungen von lokal- und regionalpolitischer Relevanz stelle darüber hinaus eine gezielte Förderung des Ehrenamtes sowie der politischen Bewusstseinsbildung dar.
Nach der von der Landesregierung geplanten Verwaltungsreform erhalten Landräte mehr Kompetenzen. Folgerichtig müssten auch die Bürgerrechte auf dieser Ebene gestärkt werden. "Es ist absolut undemokratisch, wenn Landräte mehr Macht erhalten, aber die Bürger im Landkreis nicht mitentscheiden können", sagt der NABU.
Bislang lässt die Landespolitik die engagierten Bürgerinnen und Bürger oft ins Abseits laufen. So scheiterten in jüngster Zeit in Konstanz (Katamaran), in Friedrichshafen (Thermalbad) und in Radolfzell (Gasnetz) jeweils Bürgerentscheide. Jedes mal wurde trotz großer Abstimmungsmehrheit knapp das in Baden-Württemberg vorgeschriebene Zustimmungsquorum - 30 Prozent der Stimmberechtigten - nicht erreicht. Ein paar Kilometer weiter östlich, in Bayern, wären die Bürgerentscheide dagegen gültig gewesen. Frust statt Stolz auf unser Gemeinwesen sei die Folge der unsinnigen Regelungen im Land, so die Initiatoren des Bündnisses einhellig.

Nach einem vom Bundesverband von Mehr Demokratie vorgelegten Ländervergleich schneidet Baden-Württemberg bundesweit ausgesprochen kläglich ab: In der Gesamtwertung von direkten Mitwirkungsmöglichkeiten auf Landes- und Kommunalebene liegt Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Saarland noch knapp vor Berlin auf dem 14. Platz. Die Beteiligungsmöglichkeiten wurden in dem Ländervergleich nur mit "mangelhaft" bewertet. Mehr Demokratie-Sprecher Reinhard Hackl: "in Sachen Demokratie ist Baden-Württemberg ganz klar ein Fall für einen "blauen Brief", mit der Tendenz stark versetzungsgefährdet!" Vorbildlich schneidet dagegen Bayern ab, das im Gesamtergebnis die Note "gut" erhielt.

Sollte sich im Jahr 2004 erneut nichts in Sachen Bürgermitsprache in Baden-Württemberg bewegen, wird man im Trägerkreis ein neues Volksbegehren ins Auge fassen, ist Hackl überzeugt.

Bilder von der Pressekonferenz:
Rainer Bliesener (DGB-Landesvorsitzender), Reinhard Hackl (Sprecher von Mehr Demokratie Baden-Württemberg) Dr. Stefan Rösler (NABU-Vorsitzender)