Das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Baden-Württemberg" wurde durch die Zurückweisung des Innenministeriums so sehr erschwert, dass wir jetzt einen Neuanfang unternehmen müssen.Demgegenüber haben verantwortliche Politiker in anderen Bundesländern ebenso weitgehende Volksbegehren zugelassen. 1995 war "Mehr Demokratie in Bayern" erfolgreich; 1998 "Mehr Demokratie in Hamburg"; im Juli 2000 wurde das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Thüringen" zur Vereinfachung landesweiter Volksentscheide von der CDU-Landtagspräsidentin zugelassen. Es läuft bis Ende November und ist bundesweit das derzeit vielversprechendste Projekt von Mehr Demokratie e.V.
Wenn man die Kritik des derzeitigen Innenministeriums und damit der Landesregierung an unserem Gesetzentwurf zur Erleichterung von Bürgerentscheiden auf den Punkt bringt und dabei die rhetorischen Beschönigungen weglässt, kommt man zu folgendem Ergebnis:
Die direktdemokratischen Elemente müssten, laut Innenministerium, so vorsichtig dosiert werden, dass sie in der Praxis wenig Anwendungsmöglichkeiten bieten. Denn das Volk sei zu dumm und zu gefährlich als das man ihm wesentliche Entscheidungsmöglichkeiten einräumen könnte. Direkte Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger werden daher unbillig erschwert. Somit wird die repräsentative Demokratie als Bollwerk des Staates vor den "Gefahren" der Demokratie missbraucht.
Ein solches Denken läuft dem grundlegenden demokratischen Gedanken der Volkssouveränität zuwider: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." (GG Art.20.2; Landesverfassung Art. 25.1)
Die Verantwortung von Bürgerinnen und Bürgern für ihr Gemeinwesen wird missachtet. Die Tendenzen zur Abkehr von der Politik werden nicht oder allenfalls in Sonntagsreden zur Kenntnis genommen.
Der Landesverband von Mehr Demokratie wird sich auch in Zukunft für die Ausweitung der Direkten Demokratie durch Bürgerentscheide und Volksentscheide einsetzen.
Für das nächste Jahr planen wir konkrete Projekte:
- Öffentlichkeitsarbeit zur anstehenden Landtagswahl
- Ab Frühjahr 2000 beteiligen wir uns an der bundesweiten Kampagne "Mehr Demokratie in Deutschland" zur Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene.
- Darüber hinaus leisten wir Vorarbeiten für ein neues Volksbegehren in Baden-Württemberg. Das hängt unter anderem auch von der Bereitschaft der Landtagsmehrheit ab, den kommunalen Bürgerentscheid und auch den landesweiten Volksentscheid in Zukunft anwenderfreundlich zu gestalten.
Die Zurückweisung des Volksbegehrens "Mehr Demokratie in Baden-Württemberg" zeigt nach unserer Auffassung einen falsch verstandenen Konservatismus, der langfristig den demokratischen Grundkonsens in unserem Land schwächt. Politiker als Repräsentanten des Bürgerwillens schotten sich ab und stellen sich alle fünf Jahre dem Wählervotum. Bürgerinnen und Bürger sehen nur geringe Möglichkeiten, ihren Vorstellungen Gewicht zu verleihen. Die Wahl, als ein Akt der pauschalen Vertrauensbekundung zu einer politischen Partei, reicht vielen Bürgerinnen und Bürgern heute nicht mehr aus; sie wollen sich auch an Entscheidungen über konkrete Sachfragen beteiligen können.
Diejenige Partei, die diese Abschottungsstrategie der repräsentativen Demokratie am beharrlichsten verficht ist die konservative, die CDU. Der Innenminister, Herr Schäuble, erfuhr mit seiner negativem Haltung zum Volksbegehren bei der Landtagsdebatte Unterstützung aus seiner Fraktion, während SPD und Grüne weitgehende Verbesserungsvorschläge für den Bürgerentscheid im Landtag eingebracht haben. Auch auf Bundesebene hat die Parteivorsitzende der CDU, Frau Merkel, mehrfach ihre grundsätzliche Ablehnung von bundesweiten Volksentscheiden bekundet.
Gleichzeitig scheuen Parteien, zuletzt mehrfach die CDU, nicht davor zurück, populistische Kampagnen im Rahmen von Wahlkämpfen zu führen, etwa zum Staatsangehörigkeitsrecht oder zur Ökosteuer. Auch in der Bildungspolitik lässt sich beobachten, dass Entscheidungen bewusst auf Wahltermine bezogen werden. Es zeigen sich darin Anzeichen, dass die reine Parteiendemokratie keineswegs eine Gewähr für sachgerechte Diskussionen und Entscheidungen bietet. Volksentscheide bieten demgegenüber erweiterte Möglichkeiten, unabhängig von Fraktionszwängen und Wahlterminen, Sachthemen in der Öffentlichkeit zunächst breit und über einen ausreichenden Zeitraum zu diskutieren und Argumente auszutauschen.
Während des Landtagswahlkampfes wird Mehr Demokratie in erster Linie darauf zielen, den Kreis der Interessenten und Aktiven zu erweitern und das Bewusstsein für unser Anliegen zu stärken. Im Besonderen werden wir bei allen anstehenden Aktionen die Positionen der Parteien zur direktdemokratischen Bürgerbeteiligung öffentlich bekannt machen. Zu diesem Zweck haben wir uns bereits schriftlich an die Landesparteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden von CDU und F.D.P. gewandt, um ihre Haltung zur Demokratieentwicklung zu erfahren. Auf die Antwort kann man gespannt sein. SPD und Grüne haben bereits Gesetzesinitiativen im Landtag eingebracht, um den Bürgerentscheid zu verbessern. Bei dieser und zukünftigen Wahlen wollen wir darauf hinwirken, Direkte Demokratie als Wahlkampfthema zu etablieren.
Daran schließt sich die Kampagne zum bundesweiten Volksentscheid an. Die derzeitige Regierungskoalition in Berlin, insbesondere der Generalsekretär der SPD, Herr Müntefering, zuletzt auch EU-Kommissar Verheugen, und etwa in der CDU Nordrhein-Westfalen Herr Rüttgers haben sich für die Stärkung von Volksentscheiden ausgesprochen, bisher ist aber noch nicht erkennbar, dass eine parlamentarische 2/3 Mehrheit in Bundestag und Bundesrat zur notwendigen GG-Änderung vorhanden wäre.
Der Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach mehr direkter Demokratie artikuliert sich bei Meinungsumfragen seit Jahren in breiter und noch wachsender Zustimmung. Auch hier geht es uns darum, diesen Willen zum Ausdruck zu bringen und durch vielfältige Aktionsformen zu dokumentieren.
In Baden-Württemberg lehrt uns die Zurückweisung des Volksbegehrens durch das Innenministerium unter anderem, dass wir in Zukunft auch die Gegner einer lebendigen demokratischen Kultur deutlicher benennen müssen. Mehr Demokratie ist eine überparteiliche Organisation - wenn wir einzelne Parteien kritisieren, dann nur wegen ihrer ablehnenden Position zu direktdemokratischen Verfahren. Diese Positionen wechseln von Bundesland zu Bundesland, wobei oftmals die Oppositionsparteien - wie in Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Thüringen - der direkten Bürgerbeteiligung positiv gegenüberstehen, während die Regierenden glauben, ihre Machtposition gegen Bürgerinnen und Bürger verteidigen zu müssen.
Politikverdrossenheit ist kein beliebiges Schlagwort, sondern eine reale Gefahr, eine Zeitbombe für unser Gemeinwesen. Stichworte sind steigenden Wahlenthaltungen und das verstärkte Auftreten antidemokratischer Kräfte. Direkte Demokratie ist kein Allheilmittel, aber eine sehr vielversprechende Therapie.
Alle unsere Aktivitäten gehen von dem Grundsatz aus, dass Politik von den Bürgerinnen und Bürgern getragen werden muss.
Moritz Klingmann, Nürtingen
im Landesvorstand Mehr Demokratie e.V.