Was unsere Demokratie der Vielheit heute können muss

Ein Gegenwartsimpuls zur Demokratie und der Bewährungsprobe der Demokratie in Europa, von Sarah Händel

Jetzt ist er also da, der Moment, in dem die Menschen für die Demokratie auf die Straße gehen. Es ist eine große Erleichterung zu sehen, dass es noch gemeinsame Grenzen gibt, die uns herausreißen aus unserem überbordenden Alltag. Es tut so gut, dass wir noch gemeinsam fühlen können. Und gleichzeitig schwingt in den lauten Slogans von den Bühnen ein eigentümliches Schweigen darüber mit, was diese Demokratie eigentlich heute ist. Die Demos sind eine Rückversicherung, dazu, was Demokratie mindestens zu sein hat - Grundrechte -, aber es fehlt der Impuls in die Zukunft dazu, was wir heute von der Demokratie brauchen und was sie heute können muss, um eine gestaltende Kraft unserer Gesellschaft zu sein. Dieser Text will dazu einen Beitrag leisten und beginnt mit einer Vorüberlegung. 

Augenhöhe – die Grundlage allen demokratischen Kontakts 

Was heißt das eigentlich, miteinander auf Augenhöhe sein? Ich glaube ja, dass das in der Realität unmöglich ist. Auf echter Augenhöhe zu sein würde bedeuten, dass zwei Menschen völlig ohne eigene Geschichte, ohne von Machtdynamiken geprägten Gesellschaften, völlig offen und vorurteilsfrei aufeinander treffen. Wirkliche Augenhöhe bedeutet hundertprozentige Offenheit für die Andersartigkeit des Gegenübers. Das kann keiner von uns schaffen. Wir alle sind aufgewachsen mit Moralvorstellungen über Gutes und Böses, mit Werten, Wunden, vermittelt durch die persönlichen Beziehungen, Schicksalsschläge, unserem sozialen Kontext und den Paradigmen der Zeit, in der wir leben. Das prägt jede und jeden von uns und bestimmt unsere Sichtweise auf die Welt, unsere eigene Art Urteile zu bilden und unsere ganz persönliche Erwartung an das Leben. Es kann also immer nur um eine Annäherung an die Augenhöhe gehen, doch auch das ist weit voraussetzungsvoller, als wir denken.

Gefangen im Ich - andere Maßstäbe führen zu einer anderen Wahrheit

Die eigene Sichtweise nicht mit der Wahrheit zu verwechseln, ist eine immense Herausforderung. Denn wir können die Welt ja nur durch unsere eigenen Augen sehen und sind auf unsere Werte angewiesen, um handlungsfähig zu bleiben. Und es geht auch gar nicht darum, auf eine Welt ohne Werte hinzuarbeiten. Aber es geht darum, sehr viel sensibler dafür zu werden, wie viele Missverständnisse zwischen uns Menschen dadurch entstehen, dass wir das Verhalten, die Taten oder die Äußerungen von anderen Menschen mit unseren persönlichen Maßstäben beurteilen. Das geht natürlich zu einem gewissen Grad nicht anders, aber es passiert dabei etwas, wofür wir eine neue, tiefere Wahrnehmung entwickeln müssen.

Wie menschlich aber gleichzeitig auch fehleranfällig dieser Vorgang ist, wird vielleicht etwas klarer, wenn ich es wie folgt beschreibe: Wenn ich etwas über einen anderen Menschen erfahre, dann nehme ich diesen Umstand wahr und baue ihn direkt in mein eigenes Wertesystem ein. Das heißt, ich nehme das Verhalten oder die Aussage eines anderen Menschen wahr und bewerte dieses Verhalten sofort anhand meiner Maßstäbe. Machen wir es an einem emotional schwierigen Beispiel konkret: Wenn ich über einen anderen Menschen erfahre, dass er die AfD wählt, dann denke ich: Was muss das für ein Mensch sein?. Dann melden sich alle Werte in mir, die es mir persönlich unmöglich machen würden, die AfD zu wählen. Meine Empathiefähigkeit sagt: Hat dieser Mensch überhaupt kein Gefühl dafür, wie er andere Gruppen damit verletzt und gefährdet? Meine Liebe zur Komplexität sagt: Wie kann dieser Mensch es sich so einfach machen? Mein (eingebildeter) Intellekt sagt: Wie kann der so dumm sein, darin eine Lösung zu sehen? Mein Bedürfnis nach Vielfalt und Weiterentwicklung sagt: Will er wirklich in einer rückwärtsgewandten Welt der Gleichmacherei leben? Alle diese für mich positiven, mir so wichtigen Werte schlagen gleichzeitig Alarm und fangen praktisch an zu glühen.

Und automatisch und unbewusst wird der Mensch, der die AfD wählt, für mich zum Inbegriff des Gegenteils dieser Werte. Ich nehme also die Gründe, die es MIR unmöglich machen AfD zu wählen und reduziere den anderen auf das negative Spiegelbild meiner Werte, die in mir auf sehr komplexe und individuelle Weise entstanden sind. Der andere wird zum negativen Schatten, meiner positiven Identität. Der andere Mensch, mit seiner individuellen Werdungsgeschichte verschwindet hinter diesem Schwarz und Weiss. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ich ohne diesem Automatismus aktiv entgegenzuarbeiten, wirklich verstehen werde, warum der andere Mensch die AfD wählt. Ich werde der Wahrheit des anderen mit meiner auf meiner Weltsicht beruhenden Wahrheit zuvorkommen. Und je mehr in der Situation meine wertvollsten, identitätsstiftendsten Werte betroffen sind, desto stärker wird dieser Verzerrungseffekt ausfallen.

Das ist ein hartes Beispiel, welches bei einigen von uns innerlichen Widerstand erregen wird. Es geht hier auch nicht im Geringsten darum, die AfD zu verharmlosen oder es zu rechtfertigen, die AfD zu wählen. Es geht darum, sich einem Verständnis von Augenhöhe anzunähern. Bei dem Beispiel geht es um ein Prinzip, das sich immer gleich vollzieht, wenn wir Spaltungsgefühle entwickeln und Augenhöhe nicht mehr stattfinden kann.

Nehmen wir ein anderes Beispiel, das vielleicht nicht so tief geht. Der Konflikt zwischen Vegetariern oder Veganern und Fleischessern. Der Faktorenmix, der den einen dazu bringt kein Fleisch zu essen, ist nicht einfach gespiegelt und umgedreht der Grund dafür, warum die anderen Fleisch essen. Jeder und jede von uns hat einen individuellen Mix an Werten und Erfahrungen, die dazu führen, warum dieser Mensch, genau diese Position vertritt oder genau dieses Verhalten an den Tag legt. Wir alle haben bewusste und unbewusste Legitimationsketten, die am Ende einem bestimmten Handeln, einer bestimmten Positionierung seinen Sinn verleihen. Wenn es keinen zwischenmenschlichen Raum mehr gibt, in dem wir moralische Urteile zunächst aufschieben, um dem anderen die Chance einzuräumen seine innere Legitimationskette offenzulegen, dann entsteht Spaltung. Und jede unbearbeitete Spaltung ist eine verpasste Chance zu lernen, denn jede Spaltung signalisiert uns, wo es Entwicklungsbedarf gibt.

Das Multiversum moderner Demokratien

Wir sind gerade in einer Phase der Demokratie, in der Konflikte, Unterschiedlichkeit und Spaltung Hochkonjunktur zu haben scheinen. Lange Zeit zuvor schien es so, als gäbe es bestimmte Konsense, die von einer genügend großen Mehrheit mitgetragen wurden. Deswegen hat unsere Gesellschaft im Großen und Ganzen funktioniert. Doch dann ist immer mehr von uns bewusst geworden, dass die Welt irgendwie komplizierter ist. Heute gibt es immer mehr Herausforderungen, Themen und Prinzipien, zu denen eine immer größere Spannbreite an Meinungen und Haltungen in unseren Gesellschaften gleichzeitig nebeneinander existiert: Sexualität und Geschlecht, Klimawandel und Wirtschaftswachstum, Ungleichheit und Verschuldung, Familien/Lebensmodelle und Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, Hierarchie und Ko-Kreation und viele weitere. Mit dem zunehmenden Auflösen von ordnenden moralischen Autoritäten, wie der Religion und Familienverbänden, entstehen in unseren Demokratien Multiversen unterschiedlicher Lebensentwürfe und Haltungen. Und damit nicht genug, steigt mit der Freiheit im Außen auch notwendigerweise die Komplexität im Inneren. Auf uns selbst als Impulsgeber zurückgeworfen, ist es ratsam, das eigene Ich genauer unter die Lupe zu nehmen: Was ist mir wirklich wichtig und warum? Möchte ich, dass mir etwas wichtig bleibt oder möchte ich mich verändern? Welche Impulse in mir sind gesund, welche überholte Bewältigungsmechanismen aus der (traumatisierten) Kindheit oder Huldigungen unbegründeter gesellschaftlicher Ideale? Wenn wir uns als freie Menschen begegnen, die es immer mehr schaffen, wirklich zu sich selbst zu stehen, wird das ungeheure Spektrum menschlicher Eigenart immer sichtbarer. Wir merken das besonders in Liebesbeziehungen, weil der Mensch dort am meisten in seiner Ganzheitlichkeit gefragt ist. Es ist heute eine große Herausforderung für zwei (oder noch mehr) Menschen, sich mit all ihren Eigenarten in ein neues Miteinander zu bringen. Und viele scheitern daran. 

Es ist geradezu unfassbar, wie divers und multidimensional unser gesellschaftliches und innerliches Koordinatensystem geworden ist – und wir alle sind ein unterschiedlicher Punkt darin. Ich glaube, auf einer ganz grundsätzlichen Ebene besteht noch nicht annähernd genug Wahrnehmung dafür, wie unterschiedlich wir alle sind. Und in Folge fehlt es an der demokratischen Anerkennung dafür, wie sehr es nicht mehr funktioniert, Menschen in Schubladen stecken zu wollen. Es gibt heute den schwulen, sich vegan ernährenden CDUler genauso wie die Kreuzfahrt liebende SUV-Fahrerin, die für eine hohe Vermögenssteuer eintritt und den lokal sozial engagierten Unternehmer, der auf Facebook unter der Gürtellinie gegen die Grünen wettert. Wir sind ein absurdes Kabinett von (scheinbaren) Widersprüchlichkeiten. Und deswegen fühle ich als Sarah mich auch nicht einfach durch eine Frau repräsentiert. Weil bei jedem Thema ein anderer Identitätsanteil in mir relevant wird, würde ich mich nur von jemandem repräsentiert fühlen, der bei einem konkreten Thema eine Haltung aus ähnlichen Gründen vertritt wie ich selbst. Die Voraussagung von Prioritäten und eine zielgruppenspezifische Kommunikation werden damit zunehmend schwierig, denn bei jedem Thema können sich potenziell neue Menschen in einer Schublade wiederfinden. Für unsere repräsentative Parteiendemokratie ist das ein großes Problem. Denn deren alle fünf Jahre wiederkehrender Höhepunkt besteht immer noch darin, uns ein sehr übersichtliches Schubladen-Angebot in Form von um die sechs Parteien zu machen. Es ist aber auch ein Problem für die Idee der demokratischen Wahlrepräsentation an sich.

Vielheit als Blockade 

Moderne Demokratien haben dieses Problem die letzten Jahr(zehnt)e dadurch gelöst, dass man es - etwas grob gesprochen - unterlassen hat, größere politische Entscheidungen zu treffen. Die Demokratie ist mit ihren Grundfreiheiten und Grundrechten ein Raum, in dem die beschriebene Vielheit oder Unterschiedlichkeit automatisch wächst, denn (immer mehr) Menschen und Gruppen streben danach, in ihrer Besonderheit gesehen und demokratisch beachtet zu werden. Die politischen Akteure haben diesem Wachsen an Vielheit entweder zugesehen, es befördert oder versucht, die Vielheit aktiv zu bekämpfen. Aber niemandem gelingt es bisher, diese Vielheit als konstitutiv anzuerkennen und sie konstruktiv zu managen. 

Die Status Quo fixierende Folge der Vielheit ist, dass sich niemand mehr traut wirklich zu handeln, weil zu viele Gruppen dann vor den Kopf gestoßen werden und protestieren. Oder noch einen Schritt zuvor: es kommen wegen der Vielheit überhaupt keine gestaltungsfähigen Parlamente und Regierungen mehr zustande, weil zu viele Kräfte in unterschiedliche Richtungen zerren. Weil unsere Demokratien sich daran gewöhnt haben relativ passiv zu bleiben, kommt es heute in Demokratie immer dann zu enormen Exklusions und - Entfremdungserfahrungen wenn - angeregt durch zu stark werdende Krisen wie Corona, Klimawandel, Ukrainekrieg oder der Israel-Palästina Konflikt -, tatsächlich einschneidend gehandelt werden muss. Dann muss ein gesellschaftlicher Konsens kreiert und mit scharfen Kanten verteidigt werden. Doch weil unsere Demokratie die neue, sichtbare Diversität nur geschehen lässt, sie aber nicht aktiv managen kann, entstehen diese Konsense auf ungute Weise. Sie sind nicht das Ergebnis eines Prozesses, der Vielheit zunächst aufnimmt, sie auf Augenhöhe verstehen will, und dann aus diesen verstandenen Perspektiven heraus eine Lösung sucht, die versucht Grenzüberschreitungen zu verhindern. Die neuen Konsense werden (genau wie früher) in kleinen Entscheidungskreisen festgelegt und dann gegen die Vielheit verteidigt.

Der umgedrehte Fokus: Wo wird verletzt?

Und hier kommen wir an einen entscheidenden Punkt. Wann und warum wird heute gegen politische Entscheidungen rebelliert? Eine These: Lösungen werden nicht attackiert, weil nicht allen die vorgeschlagene Lösung zu 100 Prozent gefällt, sondern dann, wenn durch die Lösung oder durch die Art und Weise ihres Zustandekommens, wichtige Grundwerte von Menschen oder Gruppen verletzt werden. Beispiel Impfpflicht. Für viele Menschen - besonders Frauen - ist die persönliche Entscheidungsmacht über den eigenen Körper ein heiliger Gral. Dass eine Impfpflicht gesellschaftlich als eine rein gesundheitstechnische Maßnahme diskutiert wurde, ohne nennenswerte Anerkennung dafür, dass solch eine Pflicht für viele Menschen eine Grenzüberschreitung seitens staatlicher Verfügungsgewalt dargestellt hätte, hat bei vielen Menschen eine demokratische Wunde hinterlassen. Und solche Wunden wirken lange nach.

Wer wird heute, wodurch verletzt? Diese Frage muss in einer Zeit, in der wir immer mehr verstehen, wie sehr Menschen durch Strukturen, Entscheidungen, Meinungen und Aussagen verletzt werden, unsere Priorität werden. Das ist für mich eine Schlüsselfrage der Demokratie: Wie können wir Entscheidungen bei wichtigen Themen treffen und dabei so wenig Gruppen und Menschen wie möglich in ihren Grundwerten verletzen? Oder anders formuliert: Wie können wir handlungsfähig bleiben, ohne zu viele Menschen zu triggern und in Angst zu versetzen, so dass sie Entscheidungen blockieren oder ihnen die demokratische Legitimation absprechen?

Und hier wird das Dilemma unserer heutigen Demokratie sichtbar. Welche Gruppen wann und wieso verletzt wurden und werden, können nicht ein paar kleine Kreise von Entscheidungsträgern festlegen oder auch nur erahnen. Um herauszufinden, wann und wodurch Verletzungen entstehen, müssen wir strukturell und kontinuierlich viel mehr Menschen und Gruppen auf Augenhöhe begegnen und ihre Perspektiven wahrnehmen. Legitimation entsteht durch Prozesse, die belegen, dass bei einer Lösungsfindung wichtige Schmerzpunkt identifiziert, anerkannt und wo es geht berücksichtigt wurden. Es geht also um eine qualitative Vertiefung der Demokratie, die es schafft, trotz immer weiter steigender Diversität eine gemeinsame Handlungsbasis herzustellen.

Meiner Meinung stehen wir gerade an einem Punkt, der uns spiegelt, wie viele Menschen sich von der Art und Weise, wie heute Politik gemacht wird, nicht auf Augenhöhe wahrgenommen fühlen. In dieser Perspektive sind die AfD und Co. quasi die verquere, unkonstruktive, pöbelnde und deswegen sichtbarste Spitze des Eisberges einer viel größeren, generellen Unzufriedenheit. Viel mehr Menschen fühlen sich nicht gesehen, nicht mitgenommen und verlieren zunehmend das Vertrauen darin, dass unsere demokratischen Strukturen noch problemlösungsfähig sind. Sie sehen nur keine Lösung darin, ihren Frust darüber auf verletzliche Gruppen zu projizieren. Viele dieser Menschen ziehen sich zurück, andere versuchen, sich wenigstens lokal aktiv einzubringen und fast alle schauen wir mit einer gewissen Resignation auf die Hilflosigkeit unserer demokratischen Institutionen, konstruktiv mit Vielheit umzugehen.

Die Vielheit ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis der Demokratie

Wir haben der Demokratie so viel zu verdanken. Sie ist der Raum, in dem Vielheit wachsen darf und damit der Menschheit dazu verhilft, sich weiterzuentwickeln, immer mehr zu sich selbst zu kommen, lebendig zu bleiben. Diversität – unsere feingliedrige Unterschiedlichkeit – war schon immer da. Sie ist unvermeidbar, wir werden nur ehrlicher darin, ihr ins Auge zu sehen. Doch dieser Blick erschreckt uns auch, weil alles unübersichtlicher, scheinbar chaotisch wird und die Orientierung schwindet. Das Ausmaß der Verschiedenheit und ihre Anfälligkeit für Missverständnisse, triggert die Urangst in uns eigentlich im Kern alleine zu sein, nicht verstanden zu werden.

Doch wenn wir realisiert und akzeptiert haben, wie unterschiedlich wir alle sind, kann daraus eine neue Offenheit entstehen und eine angeregte Neugierde: Warum hat der andere bei diesem Thema eine andere Haltung? Wie ist diese persönliche Haltung entstanden? Wie ist eigentlich meine eigene Haltung zu diesem Thema entstanden? Wer und was hat mich dabei geprägt? Es ist spannend, das zu erforschen, Neues zu lernen und die Chance zu bekommen, die eigene Haltung zu überdenken oder sich neu für sie zu entscheiden. Und was ist es für ein unendlich schönes Gefühl, von einem anderen Menschen wirklich gesehen zu werden? Was ist es für ein besonderes Geschenk, wenn ein anderer Mensch uns wirklich verstehen will, mit all unseren Marotten und seltsamen Eigenheiten? Was wir uns auf persönlicher Ebene wünschen, wünschen wir uns auch von der Demokratie.

Dieses Ideal der Offenheit für Andersartigkeit ist für mich der Leitstern für die Entwicklung einer tieferen Demokratie. Denn auch wenn die Andersartigkeit erst mal etwas Trennendes zu haben scheint, ist sie noch gleichzeitig der Nährboden, auf dem neue ungewöhnliche Allianzen entstehen können. Denn wenn wir alle so anders sind, haben wir alle auch unendlich viele Andockpunkte, um thematisch immer wieder neu zusammenzufinden. Und dann wird aus Vielfalt nicht eine scheinbar unendliche Kette der gegenseitigen Verletzungen, sondern die Chance auf das, was Hannah Arendt als politische Macht versteht. Nämlich Macht nicht verstanden als Fähigkeit mit Gewalt etwas durchzusetzen, unbedacht der dabei entstehenden Verletzungen. Sondern Macht als die Fähigkeit von Menschen, unter der Voraussetzung der Offenheit für Andersartigkeit, hinter Forderungen, Ideen und Prinzipien zusammenzukommen. Macht im Sinne von Wirksamkeit entsteht in dieser Perspektive also immer dann, wenn wir unsere Andersartigkeit dazu nutzen, neue Lösungen entstehen zu lassen, Dinge anders zu machen als bisher, aus erneuerten Begründungen heraus. Dann entsteht nicht nur Handlungsfähigkeit, sondern in jedem Prozess auch eine Verwurzelung der Erkenntnis, dass Demokratie der Fortschritt ist, der aus der Integration der Vielheit erwächst.

Da Anfangen, wo wir sind

Unsere Aufgabe ist aber deswegen nicht notwendigerweise, uns auf jeden AfD-Wähler zu stürzen und ihm unsere ganze Aufmerksamkeit zu schenken, um all seine Motive zu ergründen. Jede und jeder von uns entscheidet selbst, wem wir unsere Aufmerksamkeit schenken und in welcher Gruppe wir aktiv werden wollen. Aber in jeder Gruppe, in der wir aktiv sind - und auch uns selbst gegenüber - ist es unsere Aufgabe, Vielheit und Widersprüchlichkeit nicht wegzudrücken. Sondern es geht darum, konkrete Techniken anzuwenden, um sie wahrzunehmen, sie in ihrer Funktionslogik zu verstehen und einen Raum zu schaffen, in dem sie nicht zur Verletzung führt, sondern integrierbar wird. Das ist die demokratische Herausforderung unserer Zeit. Sie stellt sich uns allen jeden Tag neu.

Auf kollektiver Ebene geht es darum, Formate und Strukturen zu entwickeln, die genau das können und die dazu benötigten Fähigkeiten in uns schulen. Bürgerräte erzeugen solche Räume: Zufällig ausgewählte Menschen kommen als Gleiche zusammen, bekommen eine gemeinsame Faktenbasis durch Experteninput und begegnen sich dann in Kleingruppen. Dort werden Unterschiedlichkeiten offengelegt und dann in den Korridor des gemeinsam Möglichen überführt. Das sind erste Schritte in die richtige Richtung. Die geradezu beglückten Erzählungen von Menschen, die dabei sein durften, spiegeln das in großer Eindeutigkeit.

Doch das Konzept Bürgerräte kollidiert hart mit der Logik des Parteienwettbewerbs, der von der Abgrenzung lebt und uns in die entgegengesetzte Richtung leitet. Deswegen fühle ich mich immer dann besonders hoffnungslos, wenn etablierte demokratische Kräfte Unterschiedlichkeit als Angstrigger instrumentalisieren (Söder: "Ein Leben ohne Bratwurst ist möglich, aber sinnlos”). Denn damit vermitteln auch sie, dass unsere Identität in der Abwertung des Anderen besteht, dabei festigt und entwickelt sich unsere Identität in der Aus-ein-an-der-setzung mit dem Anderen! Die Verantwortung unserer Politikerinnen und Politikern und allen, die in der Öffentlichkeit aktiv sind, besteht heute darin: Unterschiedlichkeit in ihrer Komplexität offen zu legen, Motivketten in ihrer Tiefe nachvollziehbar und die eigenen Emotionen zugänglich zu machen und dabei reflexhaften Moralurteilen entgegenzuarbeiten. 

Dafür brauchen wir Talkshowformate, die weit mehr sind als der Schlagabtausch von Argumenten und Medien, die Zeit und Ressourcen haben, in der Tiefe der Vielfalt nachzugehen. Dafür brauchen wir Zugang zu Kunst und Formen des Selbstausdrucks für viel mehr Menschen und eine Bildung, die Menschen in Selbstreflexion und Erkenntnistheorie schult. Dafür brauchen Menschen den Freiraum und die ökonomische Sicherheit, aktiv zu werden und Arbeitsorte, die Selbstwirksamkeit fördern. Dafür brauchen wir eine Weiterentwicklung des digitalen Demokratieraums und transparente Verwaltungen, die kontinuierlich und kreativ Vielheit in der Umsetzung von Politik miteinbeziehen. Wir brauchen Politiker, die zuhören anstatt wissen, und schließlich brauchen wir politische Bewährungsmomente. Das sind Momente, in denen wir als Gesellschaft unsere Aufmerksamkeit gemeinsam einem Thema zuwenden, mit dem Ziel nicht nur zu reden, sondern am Ende gemeinsam zu entscheiden und unserem kollektiven Entwicklungszustand Ausdruck zu verleihen.

Zur Demokratie in Europa

Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Artikel zur Demokratie in Europa stehen. Aber die Herausforderungen der europäischen Demokratie sind genau dieselben wie die unserer nationalen Demokratien, nur um ein Vielfaches erhöht. Denn die EU muss die Vielheit ihrer 27 Mitgliedsländer, der Beitrittskandidaten und eigentlich auch die Vielfalt vom Rest der Welt mitbedenken, bei der Gestaltung ihrer politischen Entscheidungen. 

Und gerade weil die Notwendigkeit zur effektiven Integration von Vielheit auf europäischer Ebene noch viel größer ist, gibt es die Hoffnung, dass Europa die Chance nutzt, die sich ihr nach der anstehenden Wahl am 9. Juni bietet. Denn relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit ist der Stein für eine demokratische Neuausrichtung der EU schon ins Rollen gebracht: Das EU-Parlament hat letzten Sommer zum ersten Mal von seinem Recht Gebrauch gemacht, einen Verfassungskonvent anzustoßen. Denn allen relevanten Akteuren ist klar: Grundsätzliche Fragen der Zusammenarbeit in der EU müssen neu verhandelt werden, sonst droht nicht etwa der Stillstand, sondern die Regression zurück in nationale Egoismen.

Nach der Wahl wird dieser Impuls des EU-Parlaments für einen Verfassungskonvent von Kommission und Rat aufgegriffen werden müssen und dann stehen wir an einem solchen historischen Moment der demokratischen Bewährung. Die Bewährung besteht in der Antwort auf folgende fundamentale Fragen: Wie nutzen wir dieses größte aller demokratischen Privilegien, uns selbst neu zu konstituieren? Wie gestalten wir den Prozess, in dem wir gemeinsam neu miteinander verhandeln, wie wir Entscheidungen treffen? Wer darf mitsprechen, wenn es darum geht, Strukturen so zu verändern, dass Gestaltungsmacht nicht nur für einige wenige, sondern für ganz viele von uns ermöglicht wird?

Wenn Europa sich dazu entschließt, seine Erneuerung hinter verschlossenen Türen ausschließlich denen zu überlassen, die jetzt schon Entscheidungsgewalt haben, wird es allen nachfolgenden Entscheidungen an einer ganz basalen demokratischen Legitimation mangeln. Und keine Partei, keine Kommissionspräsidentin und auch nicht Millionen von Euro für Aufklärungskampagnen werden diesen Grundmangel beheben können. Demokratische Legitimation entsteht heute aus dem transparenten Einbeziehen der Vielheit. Und wenn die Grundstrukturen der Demokratie heute immer noch unter Ausschluss der Vielheit zustande kommen, braucht sich niemand über eine zunehmende Entfremdung von der Demokratie zu wundern. Wie stark solche demokratischen Erschütterungen nachwirken, können wir heute an uns selbst beobachten: In Deutschland hat der 1989 unterschlagene Verfassungsprozess und der fehlende Moment der kollektiven Zustimmung bei der Wiedervereinigung, eine immer noch offene demokratische Wunde geschlagen, deren Früchte wir heute in Form der grassierenden Demokratieresignation und Totalitarismusoffenheit ernten.

Europa steht also in naher Zukunft vor einer demokratischen Bewährungsprobe und das mindeste, was wir jetzt tun können, ist: Am 9. Juni zur Wahl gehen und genau die Partei zu  wählen, von der wir denken, dass sie am ehesten verstanden hat, dass diese Bewährungsprobe existiert und worin sie besteht. Danach geht das Ringen um die Demokratie dann erst richtig los.

 

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