mit dem oben genannten Rundschreiben haben wir Sie über die Erweiterung der Internetplattform www.abgeordnetenwatch.de in die Kommunalpolitik auf Grundlage dreier Pilotversuche im Land (Stuttgart, Pforzheim, Villingen-Schwenningen) unterrichtet.
Gegen diese Erweiterung und die damit verbundene öffentliche Befragung von Kommunalpolitikern samt Veröffentlichung der Politikerantworten via diese Plattform haben wir keine Einwände. Unser einziger Dissens mit Abgeordnetenwatch besteht in der Beurteilung von dessen Praxis, Ratsmitglieder ohne deren Einverständnis in die Plattform aufzunehmen und damit die öffentliche Kommunikation mit ihnen zu eröffnen. Unsere Einschätzung, dass hierfür die Zustimmung der Betroffenen notwendig ist beruht wesentlich auf einschlägigen Äußerungen des Landesdatenschutzbeauftragten.
Persönliche Daten nicht gegen den Willen Betroffener zu verwenden bleibt über rein rechtliche Erwägungen hinaus auch im Internetzeitalter ein Gebot des respektvollen menschlichen Miteinanders. In anderen Bereichen wird dieses Gebot ganz selbstverständlich beachtet. Kommunalpolitiker sind nicht nur Objekte der Politik, sondern vor allem Menschen mit Recht auf Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung ist gerade auch für ihr politisches Agieren wichtig; es sichert die in § 33 Abs. 3 GemO geforderte freie, nur am öffentlichen Wohl orientierte Amtsausübung und prägt die Persönlichkeit jedes Ratsmitglieds. Es eröffnet ggf. selbstverständlich auch ein Engagement bei Abgeordnetenwatch. Sofern Kommunalpolitiker den Wählerwillen missachten, haben sie die Konsequenzen hierfür spätestens bei der nächsten Wahl zu tragen. Das gilt für Baden-Württemberg in ganz besonderer Weise, da bei den hiesigen Kommunalwahlen Personen gewählt werden und nicht Parteien.
Da wir zum genannten Dissens keine Einigung mit Abgeordnetenwatch erzielen konnten, haben wir den Landesdatenschutzbeauftragten Ende Januar um eine Stellungnahme gebeten. Er hat diesen Vorgang zuständigkeitshalber an seinen Hamburger Kollegen weitergeleitet, da Abgeordnetenwatch seinen Sitz in der Hansestadt hat. Aufgrund der Stellungnahme aus Hamburg wollten wir uns mit Abgeordnetenwatch über das weitere Vorgehen verständigen.
Abgeordnetenwatch wusste dies und hat unsere jederzeit offene, konsensorientierte und transparente Vorgehensweise in einer Mail an uns vom 08.02.2012 ausdrücklich gewürdigt (Anlage 1), über den Dissens allerdings im eigenen Beritt seinerzeit offensichtlich nicht informiert. Diese Unterrichtung ist durch Abgeordnetenwatch erst mit dem als Anlage 2 beiliegenden Newsletter vom 23.05.2012 an ca. 34.000 Abonnenten erfolgt, der inhaltlich falsch ist und in völligem Kontrast zur Mail vom 08.02.2012 steht.
Da Abgeordnetenwatch jedwede Kommunikation hierüber verweigerte und uns andererseits sofort Anfragen von dessen Newsletterabonnenten hierzu erreichten, mussten wir den Vorgang mit den als Anlage 3 beigefügten Pressemitteilungen vom 24.05.2012 und 01.06.2012 öffentlich richtigstellen. Die durch den Newsletterversand ausgelöste Welle an Solidaritäts- und Unterstützungsbekundungen für Abgeordnetenwatch konnten wir mit diesen Mitteilungen allerdings nicht erreichen. Abgeordnetenwatch hat auch nicht auf unsere Bitte reagiert, die von ihm propagierte Transparenz herzustellen, in dem es seinen Newsletterabonnenten auch unsere Position übermittelt.
Über uns ist deshalb ungebremst hereingebrochen, was man im Fachjargon einen „Shitstorm“ nennt, also eine Fülle von Vorhaltungen und Anschuldigungen per Mail und im Netz, die alleine auf der fehlerhaften Darstellung von Abgeordnetenwatch gründen.
So traurig sich dieser Vorgang entwickelt hat, vermittelt er andererseits einen sehr wertvollen Einblick in Mechanismen der öffentlichen Meinungsbildung mittels Sozialer Medien. Wir haben sie in unserem als Anlage 4 beigefügten Schaubild dargestellt. Die Meinungsbildung zu Konflikten erfolgt in den „klassischen Medien“ (Presse, Radio, Fernsehen) im Regelfall unter Beachtung eherner journalistischer Grundsätze. Danach sind stets die Positionen beider Konfliktparteien objektiv und ausgewogen darzustellen; erst darauf beruhend und davon ersichtlich abgehoben wird ggf. gewertet und kommentiert.
Eine den klassischen Medien entsprechende dritte Instanz neben den Konfliktparteien fehlt bei der Meinungsbildung in Sozialen Medien. Vielmehr erlangt dort die von einer Partei vorgegebene Meinung nach dem Schneeballsystem immer größere Wahrnehmung, weil sie von Newsletterabonnenten u. a. weiterverbreitet wird, ohne Gegenmeinungen einzubeziehen. Schließlich erreicht das strittige Thema hierdurch bzw. durch einen Shitstorm die klassischen Medien. Die Gewichte haben sich zu diesem Zeitpunkt in der öffentlichen Wahrnehmung des strittigen Themas allerdings schon einseitig verschoben. Die mit dem Shitstorm torpedierte Konfliktpartei steht in der Folge unter permanentem Rechtfertigungsdruck. Das Handeln und die Motive jener Konfliktpartei, die den Shitstorm ausgelöst hat, erscheinen hingegen per se legitim und werden folglich kaum hinterfragt.
Die einzige Möglichkeit, für (annähernde) Ausgewogenheit bei der Meinungsbildung zu stadtrelevanten Themen in den Sozialen Medien zu sorgen besteht daher darin, sich ggf. selbst als Stadt aktiv in diese Medien einzubringen. Dabei sind die besonderen Kommunikationsgepflogenheiten in diesen Medien zu beachten.Mit diesem für die Kommunalpolitik und damit für alle Städte sehr wichtigen Gegenwarts- und Zukunftsthema befassen sich die in Vorbereitung befindlichen „Hinweise und Empfehlungen des Städtetags Baden-Württemberg zur Bürgermitwirkung in der Kommunalpolitik“ ausführlich.Siehe hierzu unser Rundschreiben R 20275/2012 vom 24.05.2012.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Prof. Stefan Gläser
Oberbürgermeister a. D.
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