Bei der zweiten Runde der Oberbürgermeisterwahl in Mannheim am 9. Juli lag die Wahlbeteiligung bei nur noch 30,9 Prozent, damit sank sie noch einmal um 1,32 Prozentpunkte im Vergleich zum ersten Wahlgang am 18. Juni. Der Gewinner Specht (CDU) erreichte 49,9 Prozent der Stimmen und lag damit nur 1,2 Prozentpunkten vor dem zweitplatzierten Riehle (SPD). Der unabhängige Kandidat Cakir erreichte 1,3 Prozent. Damit hat der neue OB nur 15 Prozent aller Wahlberechtigen hinter sich. Der Verein Mehr Demokratie sieht in der niedrigen Wahlbeteiligung mit ihrem Tiefpunkt bei 5,3 Prozent im sozial herausgeforderten Stadteil Hochstätt, ein zunehmendes Problem für die repräsentative Demokratie und schlägt Sofort-Maßnahmen vor.
Besonders besorgniserregend für die Demokratie sei die stark schwankende Wahlbeteiligung zwischen den Stadtteilen. Mit die höchste Wahlbeteiligung hatte ein Wahlbezirk in Lindenhof mit 36,45 Prozent im Vergleich zu nur 5,3 Prozent in Hochstätt mit der geringsten Beteiligung (Bitte dazu Hinweis unten beachten!). „Bei einer dramatische niedrigen Zahl von 5,3% Beteiligung bei einer Bürgermeisterwahl, müssten parteiübergreifend alle Alarmglocken schrillen“, kommentiert Sarah Händel, Landesgeschäftsführerin von Mehr Demokratie Baden-Württemberg. Diese Schwankungen bei der Beteiligung seien nach Berechnungen von Prof. Wurthmann von der Uni Mannheim (Quelle 1) nicht zufällig, sondern hängen stark mit sozialen Faktoren zusammen. Die Mindestsicherungsquote zum Beispiel, das aussagt wie viel Menschen Unterstützungsleistungen vom Staat bekommen, liegt in Hochstätt bei 31,1 Prozent und in Lindenhof bei 4,9 Prozent. Auch die Beschäftigungsquote schwankt von 67,5 in Lindenhof zu 45,5 Prozent in Hochstätt. Ein weiterer imposanter Wert ist der Anteil der unter 21-Jährigen mit Migrationshintergrund: Hochstätt hat 74,1 Prozent und Lindenhof 47,3 Prozent. Nach den Berechnungen ist der Zusammenhang zwischen einer geringeren Wahlbeteiligung und den Faktoren der Mindestsicherungsquote und der Beschäftigungsquote für alle Stadtteile nachweisbar.
„Wenn schlechtergestellte Gruppen sich immer weniger an der repräsentativen Demokratie beteiligen, geraten wir in eine ernstzunehmende Schieflage“ warnt Händel. „Es gilt an allen Stellschrauben zu drehen, die zur Verfügung stehen“. Der Verein schlägt als Sofortmaßnahme die automatische Verschickung von Briefwahlunterlagen bei allen Wahlen vor. Erfahrungen bei der OB-Wahl-Konstanz in der Coronazeit hätten damit eine Steigerung der Wahlbeteiligung von 14 Prozent erzielen können (Quelle 2).
Außerdem fordert der Verein eine Verbesserung des Bürgermeisterwahlrechts. Händel kritisiert, dass das in Baden-Württemberg praktizierte Bürgermeisterwahlrecht für schlechter legitimierte Bürgermeister sorge und zudem unnötig teuer sei, indem es einen zweiten Wahlgang vorsieht. Am kritikwürdigsten ist nach Händel jedoch, dass das momentane Wahlrecht schlechter darin sei Mehrheiten sicher zu identifizieren, vor allem in den Großstädten, wo zumeist mehr als 2 Kandidierende gegeneinander antreten.
Um diese Probleme anzugehen, schlägt der Verein die integrierte Stichwahl vor. „Die integrierte Stichwahl schafft es in nur einem Wahlgang, treffsicher den Kandidaten oder die Kandidatin zu identifizieren, die 50 Prozent der Wählerschaft hinter sich versammeln kann“, erklärt Händel.
Dazu werden im ersten und einzigen Wahlgang einfach alle antretenden Kandidierenden auf dem Stimmzettel nach Präferenz des Wählenden durchnummeriert. Der Kandidat mit den wenigsten Stimmen scheidet aus und dessen Stimmzettel werden anhand der dort angegebenen Zweitpräferenzen neu ausgewertet und auf die übrig gebliebenen Kandidierenden verteilt. So lang bis ein Kandidat mindestens 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint.
„Die Wahl wird für mich attraktiver, wenn ich als Wählerin nicht strategisch wählen muss, sondern ohne Angst meine Stimme zu verschenken angeben kann, wer mein Lieblingskandidat ist. Meine Stimme wird abgesichtert indem ich zugleich auch meine zweite Wahl mitangeben kann, für den Fall, dass mein Favorit nicht unter die ersten zwei Plätze kommt“, erklärt Händel. Auf diese Weise gingen keine Stimmen mehr verloren und es könne treffsicher ermittelt werden, welcher Kandidat tatsächlich den größten Rückhalt in der Bevölkerung habe. Kandidaten aus demselben Lager nähmen sich so nicht mehr gegenseitig die Stimmen weg, sondern die Wählerstimmen sammeln sich automatisch hinter demjenigen mit den größten Erfolgsaussichten.
„Bei so einem knappen Ergebnis wie in Mannheim kann eine Wahl leicht auch anders ausgehen, wenn es nur einen Wahlgang gibt und die Stimmen aller Kandidierenden nach den beiden Spitzenreitern direkt anhand der dort angegebenen Zweitpräferenz neu ausgewertet und zugeschrieben werden können“, so Händel.
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Wichtiger Hinweis: bei den jetzt statistisch zugänglichen Wahlbeteiligungen können die Briefwahlstimmen leider nicht bis auf die Wahlbezirksebenen zugeordnet werden. Das bedeutet die genannten Zahlen der Wahlbeteiligung in den Stadtteilen sind Angaben ohne Briefwahlstimmen. Es ist anzunehmen, dass die Unterschiede zwischen der Wahlbeteiligung in den Wahlbezirken jedoch noch weiter steigen würden, wenn die Briefwahlstimmen dazu kommen, weil tentendenziell in den Stadtteilen mit mehr Beteiligung auch mehr Menschen auf Briefwahl zurückgreifen.
Quelle 1: Berechnungen Prof Dr. Wurthmann, Uni Mannheim: https://twitter.com/CW_PoWi/status/1678137639327739905?t=kWGRpAFpYNgZ6sZTMvESjQ&s=35
Quelle 2: Studie zu positiven Effekten der automatischen Briefwahlunterlagen auf die Beteiligung: https://www.sueddeutsche.de/bayern/briefwahl-bayern-kommunen-beteiligung-1.5688510