Verdreifachung der Bürgerbegehren in Baden-Württemberg

Erster bundesweiter Bürgerentscheidsbericht von 1956 bis 2007

Der Landesverband von Mehr Demokratie e.V. berichtet, dass im Jahr 2007 drei mal so viele Bürgerbegehren gestartet wurden wie im langjährigen Durchschnitt mit 9.

Der Landesverband von Mehr Demokratie e.V. berichtet, dass im Jahr 2007 drei mal so viele Bürgerbegehren gestartet wurden wie im langjährigen Durchschnitt. Es sei zu vermuten, dass sich dieser Trend fortsetze, denn schon in den ersten vier Wochen 2008 initiierten die Bürger 5 neue Bürgerbegehren. Im ersten bundesweiten Bürgerentscheidsbericht für die Zeit von 1956 bis 2007 stellt der Fachverband einen steigenden Bedarf an direkter Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger fest. Fast 4600 Bürgerbegehren fanden bisher in Deutschland statt, davon 590 in Baden-Württemberg. In einem Fünftel aller deutschen Kommunen haben Bürgerinnen und Bürger bereits mindestens einmal direktdemokratisch über eine Sachfrage abgestimmt.

Reinhard Hackl, Landesvorstandsprecher, präsentierte die Zahlen für das letzte Jahr: 2007 gab es 34 direktdemokratische Verfahren in Baden-Württemberg. Davon waren 30 Bürgerbegehren und 4 Ratsreferenden. Die Steigerung wurde durch die im Juli 2005 in Kraft getretene Änderung der Gemeindeordnung ermöglicht, die die Regierungskoaltion von CDU und FDP auch auf Druck des „Bündnisses für mehr Demokratie“, dem u.a. der DGB und die Naturschutzverbände angehören, beschlossen hatte. Vor zweieinhalb Jahren wurden die Themeneinschränkungen weitgehend aufgehoben, so dass man nunmehr auch in Baden-Württemberg, vom Negativkatalog abgesehen, über alle Gemeindeangelegenheiten abstimmen könne. Von den 30 Bürgerbegehren 2007 waren 23 nur aufgrund der Änderung zulässig. Die Bürgerentscheide in Freiburg und Pforzheim trugen wesentlich zur Bekanntheit dieser Neuerungen bei.

Auch die Anzahl der Bürgerentscheide stieg. Von den 46 Bürgerbegehren aus den Jahren 2006 und 2007 führten 19 zu einem Bürgerentscheid, weitere 7 wurden übernommen oder es kam zu einem Kompromiss. 15 Begehren sind noch offen.

Besonders erfreulich war 2007 der erste Bürgerentscheid zu einer Bauplanungsfrage (Orsingen-Nenzingen, LK Konstanz). Insgesamt 7 Begehren beschäftigten sich mit einer solchen Fragestellung. Von diesen wurden bisher 3 für unzulässig erklärt. Zwei Initiativen legten dagegen Widerspruch ein (Nußloch und Fellbach). In Waldenburg hielt der Gemeinderat das Bürgerbegehren zwar für unzulässig, beschloss aber über das Bauvorhaben selbst einen Bürgerentscheid durchzuführen. Auch in Leutkirch entschloss sich der Gemeinderat nach einem Bürgerbegehren gegen die Ausweisung eines Industriegebietes für einen Bürgerentscheid.

In Gesetzgebungsverfahren 2005 war besonders der Bereich Bauleitplanung umstritten. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern wie Bayern, Hessen und Sachsen wurden in Baden-Württemberg aber Bürgerbegehren zu Fragen der Bauleitplanung nur einschränkt zugelassen. Seit der Aufnahme des Tatbestandes „Bauleitpläne und örtliche Bauvorschriften“ in den Negativkatalog streiten sich Initiativen und Gemeinden um die Zulässigkeit von Bürgerbegehren zu diesem wichtigen Themengebiet. Im bundesweiten Vergleich berührten über 43 Prozent aller Verfahren diesen Bereich.

Trotz der Änderung der Gemeindeordnung werden weiterhin zu viele Bürgerbegehren für unzulässig erklärt. Im langjährigen Mittel waren dies über 40 Prozent. Im den beiden letzten Jahren immerhin noch 19 Prozent. In vier Fällen (Fellbach, Nußloch, Stuttgart und Vogt) gingen die Initiativen mit einem Widerspruch oder einer Klage gegen die Entscheidung vor. 15 Begehren wurden noch nicht entschieden.

Vorbild für Baden Württemberg bleibe trotz der positiven Entwicklung das Nachbarland Bayern. In Bayern, mit seinen über 2000 Gemeinden, wurden 121 Verfahren gestartet. Mit 34 direktdemokratischen Verfahren finden in Baden-Württemberg mit seinen knapp 1110 Gemeinden im Vergleich rund halb so viele Verfahren statt.

Jahrzehntelang war Baden-Württemberg das einzige Bundesland, welches Bürgerbegehren und Bürgerentscheide kannte. Wegen des Themenausschlusses und hoher Hürden blieb die Praxis allerdings in eng begrenzten Rahmen auf öffentliche Einrichtungen wie Stadthallen oder Schwimmbäder beschränkt. Ab 1990 führten fast alle deutschen Bundesländer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in ihren Gemeinden, Städten und mit wenigen Ausnahmen in den Landkreisen ein. Deswegen war Baden-Württemberg seit Mitte der 90er Jahre aufgrund der Verfahrenshürden wie auch Praxis ans Ende des Bundesländervergleiches gefallen. Seit der Reform 2005 läge es nun im bundesweiten Vergleich im Mittelfeld.

Reinhard Hackl freut sich über Verdreifachung der Zahl der Bürgerbegehren im letzten Jahr. „Die Änderung der Gemeindeordnung ist bei den Bürgern angekommen. Baden-Württemberg hätte deutlich zugelegt im bundesweiten Vergleich.

Die Demokratiepflanze in Baden-Württemberg wächst, bleibt aber noch zu stark beschnitten! Die Landesregierung habe sich 2005 aus der „Demokratiewüste“ verabschiedet. Nun dürfe das Land nicht bei einer demokratischen „Bonsaikultur“ stehen bleiben!“

Jedes unzulässige Begehren oder jede gescheiterte Abstimmung führe zu großem Frust und Politikverdrossenheit. Die Landesregierung solle deswegen die Reform nachbessern und den 2005 in den Negativkatalog aufgenommen Ausnahmetatbestand Bauleitplanung streichen, die Frist abschaffen und das Zustimmungsquorum wie in Bayern nach Gemeindegröße von 10 bis 20 Prozent staffeln.

 

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